

Fernand Khnopff gilt als einer der rätselhaftesten Maler des Symbolismus. Das Petit Palais widmet ihm nach 40 Jahren zum ersten Mal wieder eine Retrospektive in Frankreich, zu sehen sind etwa 150 Werke aus allen Schaffensperioden von Khnopff, von den frühen Landschaften über die Kinderporträts und ätherischen Frauenfiguren bis zu den mythologischen Bildern und den späten enigmatischen Stadtansichten von Brügge. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit den Königlichen Museen der Schönen Künste in Brüssel und versucht, mit einer eigens entworfenen Ausstellungsarchitektur in die Atmosphäre des Fin de Siècle in Khnopffs Atelierhaus einzutauchen.
Fernand Khnopff zelebrierte sein weltabgewandtes Dandytum mit der gleichen Hingabe wie er seine hermetischen Bilderrätsel schuf, die den Betrachter in ein unentwirrbares Labyrinth aus Symbolen locken. Auch aus seiner Person und seiner Vita machte er ein Geheimnis, nur wenig ist aus seinem Privatleben überliefert, zuweilen erscheint er wie die Verkörperung des exzentrischen Aristokraten Jean Floressas Des Esseintes, dem letzten seines Geschlechts, aus Joris-Karl Huysmans‘ Roman À rebours (Gegen den Strich), dem Kultbuch der französischen Décadance des 19. Jahrhunderts.
Geboren wurde Fernand Khnopff 1858 auf dem Schloß seiner Großeltern in Grembergen, sein Vater Edmond-Jean-Joseph war Magistrat in Oudenaarde. Als Fernand ein Jahr alt war, zog die Familie nach Brügge, wo er seine Kindheit verbrachte, die seine Persönlichkeit stark prägen sollte. Nachdem Khnopffs Vater eine Position als Richter erhalten hatte, ließ sich die Familie in Brüssel nieder. Die Sommerferien verbrachte Fernand regelmäßig in Fosset bei La-Roche-en-Ardennes. Im Alter von 15 Jahren machte Khnopff in Fosset seine ersten Skizzen nach der Natur, wo sich bereits erste kompositorische Stilmerkmale seines späteren Werks zeigen. Auf einer seiner Studien notierte er „den Himmel nicht sehen“, die eigentümliche Wahl des Bildausschnitts mit seinem hohen Horizont und angeschnittenen Figuren sollte charakteristisch für sein gesamtes künstlerisches Werk werden.

Fernand Khnopff, Le maître de l’énigme, Petit Palais
Khnopffs aristokratische Erziehung und das kunstaffine Ambiente, in dem er aufwuchs, trugen maßgeblich dazu bei, daß er als Künstler ein ausgesprochen exzentrisches dandyhaftes Verhalten mit einem ausgeprägten Standesbewußtsein an den Tag legte. Der Familientradition folgend begann er nach dem Gymnasium im Jahr 1875 ein Jurastudium an der Université Libre de Bruxelles, das er jedoch schon nach einem Jahr abbrach, um seiner künstlerischen Berufung nachzugehen und an der Königlichen Akademie für Schöne Künste zu studieren. Auch das Studium an der Akademie brach Khnopff 1879 ab und begann nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris seine Laufbahn als freischaffender Künstler.
Les XX, Kunstrevolte der belgischen Bourgeoisie.
1883 formierte sich die belgische Künstlervereinigung Les XX bzw. Société des Vingt (Gruppe der Zwanzig), zu deren Gründern Fernand Khnopff zählte, und in der er bis zu ihrer Auflösung 1893 Mitglied blieb. Khnopff hatte ihr erstes Logo entworfen und gehörte zu den erfolgreichsten Exporten der Künstlergruppe. In Belgien wurde die Avantgarde von ehrgeizigen Anwälten und Sammlern angeführt, so wie auch Fernand Khnopff, der eigentlich eine juristische Karriere einschlagen sollte, aus einer Familie stammte, aus der zahlreiche Beamte hervorgingen. Im Gegensatz zur symbolistischen Bewegung in Frankreich entwickelte sich die künstlerische Revolte der XX nicht in einem Milieu von Bohemiens, sondern war ein Zusammenschluß von Söhnen der Bourgeoisie, die entschlossen waren, gegen den herrschenden konservativen Geschmack ihrer Väter zu Felde zu ziehen. Anstatt gegen soziale Hierarchien zu rebellieren, war die Strategie der XX, den Staat direkt für ihre Ziele einzuspannen.
Auf den Salon der Triennale, die Akademie und das Juryverfahren anspielend erklärte Octave Maus, einer der Mitbegründer: „Alles Schöne, Freie und Aufrichtige wird von einer Seilschaft von Kraken erstickt, die daraus das ganze Geld, jegliche Wertschätzung und Anerkennung für sich selbst heraussaugen.“ Ein ästhetisches Programm hatten Les XX nicht, weshalb es schwierig ist, ihre gemeinsamen Ziele zu definieren. Die Gruppe war ein Sammelbecken für alle Trends, die nach Avantgarde aussahen, in dem Naturalismus, Neo-Impressionismus und Symbolismus miteinander vermischt wurden. Die linksgerichteten Wortführer der XX machten während der Wirtschaftskrise 1886 mit sozialistischen Ideen Front gegen das politische Establishment. Dieser klassenkämpferische Geist spiegelt sich auch in den Bildern der Künstler wider, die mit einer Ikonografie eines proletarischen Heldentums das Elend der Bergarbeiter in den Kohlerevieren anprangerten.

Fernand Khnopff, Mademoiselle Van der Hecht, Öl auf Leinwand, 1883

Fernand Khnopff, Marie Monnom, Öl auf Leinwand, 1887
Die Ausstellungen der Gruppe wurden zunehmend von den dekorativen Künsten geprägt, die diesem demokratischen Impuls folgend die Grenze zwischen Künstler und Handwerker aufzuheben versuchten. Am deutlichsten wurde das moderne Ideal eines belgischen Sozialismus durch die Versprechungen des von Victor Horta entworfenen und 1891 eröffneten Maison du Peuple (Haus des Volkes) verkörpert. Auch Fernand Khnopff beteiligte sich an einem Projekt des Maison du Peuple, das die Erziehung der Arbeiter zum Ziel hatte. Ein besonderes Anliegen der XX war es, das interdisziplinäre Arbeiten zwischen künstlerischen Genres und Medien zu fördern. Schriftsteller und Dichter wie Maurice Maeterlinck spielten eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung einer modernen Kunst, doch auch die Musik war ein fester Bestandteil der Ausstellungen und Soiréen der XX.
Nicht nur die revolutionäre Musik Richard Wagners, auch Kammermusik des belgischen Komponisten César Franck oder von Claude Debussy und Gabriel Fauré orchestrierten die Kunst des Fin de Siècle in Belgien. Fernand Khnopff hatte gute Kontakte zu Musikern und erhielt zahlreiche Porträtaufträge, darunter das Porträt Jeanne Kéfer, der Tochter des Komponisten Gustave Kéfer. Seinen ersten großen Erfolg in der Öffentlichkeit feierte Khnopff 1886 mit seinem Gemälde Schumann hörend, in dem er seine Mutter versunken in Schumanns Musik darstellte. Inspiriert wurde dieses von Trauer und Schmerz erfüllte Bild wahrscheinlich von James Ensors ähnlichem Gemälde La Musique Russe, das zwei Jahre vorher entstand. Als beide Bilder gleichzeitig im Salon der XX ausgestellt wurden, bezichtigte Ensor Khnopff des Plagiats und kündigte ihm die Freundschaft auf. Anders als Ensor stellte Khnopff jedoch nicht die Musik dar, sondern wollte das Zuhören, das innere Erleben des Klangs und seine psychologische Wirkung visuell sichtbar machen. Die in völliger Hingabe an die Musik versunkene Zuhörerin läßt sich von ihrer Magie forttragen, indem sie sich mit ihrer zum Ohr hingeführten Hand von der Außenwelt abschirmt. Die Quelle der Musik wird durch die Hand des Pianisten am linken Bildrand nur angedeutet und befindet sich außerhalb des Fokus‘ des Betrachters.

Fernand Khnopff, Schumann hörend, Öl auf Leinwand, 1883
Auf der Suche nach dem fiktiven goldenen Zeitalter Belgiens entdeckte Fernand Khnopff die „Seele der Dinge“.
Khnopffs Bereitschaft, fremde Einflüsse zu assimilieren, spiegelt die Neugierde einer kleinen und noch nicht gefestigten Nation wider, die noch auf der Suche nach ihrem Platz in der Kulturlandschaft Europas war. Bei der Entwicklung einer belgischen Identität schreckten die politischen Vordenker auch vor antisemitischen Ausfällen nicht zurück, um ein krudes nationalistisches Konstrukt aus romanischen und germanischen Wurzeln von unreinen Einflüssen fernzuhalten. In diesem Zusammenhang stehen auch die kolonialen Expansionsgelüste von König Leopold II und der brutalen Unterwerfung des Kongo 1885. Viele belgische Künstler unterstützten diese imperialistische Politik und ließen sich von primitiver afrikanischer Plastik inspirieren, weshalb der belgische Jugendstil auch Züge des mörderischen Kolonialismus trägt.
Das Ringen um eine nationale Identität in Belgien wurde bestimmt von politischen Rahmenbedingungen, die von der Septemberrevolution 1830 geprägt waren. Nachdem die belgischen Provinzen jahrhundertelang unter der Fremdherrschaft von Spaniern, Holländern, Franzosen und Österreichern gestanden hatten, konnte sich lange Zeit keine identitätsstiftende Kultur herausbilden. Um diesem Mangel an geschichtlicher Tradition entgegenzutreten, lancierte das Königreich eine Reihe „erfundener Traditionen“, um die sich Geschichten von Kreuzzügen und mittelalterlichen Schlachten um bürgerliche Unabhängigkeit rankten. Wegen der Mehrsprachigkeit Belgiens wurde die visuelle Kunst zur treibenden Kraft bei der Projektion einer ruhmreichen gemeinsamen Vergangenheit.

Fernand Khnopff, Requiem, Schwarze Kreide und Farbstift auf Papier, 1905
Allerdings blieb der nationale Stil von Widersprüchen bestimmt, während man in Brüssel das Werk von Rubens mit seiner Überschwänglichkeit und seinen sinnenfrohen Farben bevorzugte, wurde in Antwerpen das Erbe der Primitiven des 15. Jahrhunderts in der Tradition von Memling mit reich ornamentierten Interieurs gepflegt. Auch in der Zeit von Fernand Khnopff blieb das künstlerische Koordinatensystem Belgiens Stückwerk mit den konkurrierenden Einflüssen von Bosch, Bruegel, Memling und Rubens, in denen die Künstler ihre eigenen Vorstellungen zu verorten suchten. Khnopff versuchte, die Erscheinungen des Alltags mit der „Seele der Dinge“ zu durchdringen.
Hin- und hergerissen zwischen Erneuerungsbestrebungen und dem Schwelgen in einem fiktiven verlorenen goldenen Zeitalter war Belgien der ideale Nährboden für den Symbolismus mit seiner Sehnsucht nach Mythen und Legenden, die die nationale Vergangenheit in einem seltsamen verklärten Licht erscheinen ließen. Zugleich wurde der Materialismus des modernen Belgiens als vergänglich und seelenlos betrachtet, und seine Überwindung durch eine soziale Revolution, die von den Idealen der Schönheit getragen war, herbeigesehnt. So gesehen war Fernand Khnopffs Werk sowohl solitär als auch kosmopolitisch, das zugleich von Nostalgie verklärt war und auf die Zukunft gerichtete Energien zu entfesseln versuchte.

Fernand Khnopff, Weihrauch, Öl auf Leinwand, 1898
„L’art pour l’art“ war die Antwort der Symbolisten auf die Umwälzungen des Fin de Siècle.
Der Symbolismus hatte sich gegen 1880 aus der Bewegung der Décadence entwickelt, die den Positivismus des technischen Fortschritts in Frage stellte. Der zunehmende Verfall einer Epoche kurz vor ihrem Untergang wurde von den Symbolisten in eine Kunst transzendiert, die dem Verlust der Mysterien des Alltags eine gesteigerte Sinneslust entgegenzusetzen versuchte. Dabei wandte sich der Symbolismus nicht nur gegen die Detailverliebtheit des Naturalismus, sondern auch gegen die Schwärmerei der Romantik. Auch die banalen Motive des Impressionismus wurden von den Symbolisten abgelehnt, stattdessen traten sie für ein Kunstideal ein, das zwischen den äußeren Aspekten der Welt und einer tieferliegenden verborgenen Wirklichkeit mit Hilfe von Symbolen zu vermitteln suchte.
Ausgehend von den gesellschaftlichen Umwälzungen und der damit verbundenen Industrialisierung wurde das Weltbild der Künstler des Fin de Siècle nachhaltig erschüttert, da auch die Naturwissenschaften, deren gesicherte Erkenntnisse sich in stets neuen Entdeckungen auflösten, und die Religion keinen geistigen Halt mehr bieten konnten. Nur durch das Symbol, in dem sich die Ganzheit einer ästhetischen Vorstellung der Wirklichkeit manifestierte, konnte der Fragmentierung der Welt entgegnet werden. Sowohl in der Dichtkunst als auch in der bildenden Kunst sollten die Bruchstücke der äußeren Realität zu neuen Symbolen zusammengesetzt werden, um durch vollkommene Schönheit zu einer spirituellen Ganzheitlichkeit zurückzukehren. Eines der dabei angewandten Stilmittel war die Synästhesie, die sämtliche Sinneswahrnehmungen wie Farbe, Klang oder Geruch in einen Kontext stellte, weshalb bei symbolistischer Poesie auch der musikalische Rhythmus eine große Rolle spielte.

Antinous Mondragone, Italien, Marmor, um 130 n. Chr.

Fernand Khnopff, Mit Verhaeren. Ein Engel, Bleistift und Kreide auf Papier, 1889
Einer der wichtigsten Grundsätze des Symbolismus war es, das angestrebte ästhetische Ideal niemals direkt darzustellen, sondern immer über den Umweg einer indirekten Annäherung. Durch die Ergründung von verwandtschaftlichen Affinitäten zwischen Worten und Dingen sollten diese in eine spirituelle Relation gesetzt werden, um so das ästhetische Ideal, den höheren Sinn, allmählich einzukreisen. Entscheidend war dabei der Sinnhorizont einer Idee, der als Metapher für die Gültigkeit eines Weltganzen, für das Ewige und Erhabene dienen sollte. Die Banalität der Realität sollte so durch eine von Mysterien durchdrungene Kunstwelt ersetzt werden. Im Dialog mit dem Kunstwerk sollte der Betrachter das, was sich nicht verbal ausdrücken läßt, langsam enträtseln. Die Symbolisten verstanden sich nicht als Weltveränderer, sondern als Demiurgen einer autonomen Ästhetik, die die innere und äußere Welt in Einklang bringen sollte, und fühlten sich ausschließlich dem Begriff „L’art pour l’art“ („Die Kunst um der Kunst willen“) verpflichtet.
Der 18. September 1886 gilt als offizieller Gründungstag der symbolistischen Bewegung, als der Dichter Jean Moréas das Manifest Le symbolisme veröffentlichte, in dem er gegen einen „klaren Sinn, Deklamationen, falsche Sentimentalität und sachliche Beschreibung“ Position bezog und das Bestreben ausdrückte, „das Ideal in erkennbare Form zu kleiden“, dessen „Ziel nicht in sich selbst liegt, sondern darin, das Ideal auszudrücken.“ Nachdem der Symbolismus 1889 durch die Weltausstellung in Paris zum ersten Mal einem breiten Publikum bekannt gemacht worden war, breitete er sich von Frankreich ausgehend in ganz Europa aus, mit starkem Einfluß in Belgien, Deutschland, Österreich und Rußland. Zum geistigen Gründungsvater des Symbolismus wurde der französische Dichter Charles Baudelaire auserkoren und sein bekanntestes Werk Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen) wurde zur Bibel der Intellektuellen, die das Lebensgefühl des Fin de Siècle, hin-und hergerissen zwischen Weltschmerz und Fortschrittsglauben, auf den Punkt brachte.
Zu den bevorzugten Themengebieten der Symbolisten gehörten vor allem die griechische Mythologie und biblische Allegorien, die mit tiefenpsychologischen Bildinhalten und ekstatischen Gefühlen, mit Okkultismus, Phantastik, Eros, Sünde, Krankheit oder Tod in einen neuen Kontext gesetzt wurden. Das Reine, Edle und Erhabene wurde von klassizistisch inspirierten, in lange weiße Gewänder gehüllten Frauengestalten verkörpert. Ihnen gegenübergestellt wurde die „Femme fatale“, die die dunkle Seite mit den Metaphern für Eros, Sünde, Tod und Teufel heraufbeschwor, indem sie das Erhabene und das Abgründige in sich vereinigte.

Fernand Khnopff, Das höchste Laster, Pastell, Farbstift und Weißhöhung auf Papier, 1885

Fernand Khnopff, Das Idol, Bleistift, Kohle und Pastell auf Papier, 1909
Khnopff zelebrierte sein Künstlerleben als Gesamtkunstwerk mit seinem Atelier als Tempel des Ichs.
Fernand Khnopff war mit Leib und Seele Symbolist, der akribisch daran arbeitete, sein Leben zum Gesamtkunstwerk zu stilisieren. Dem symbolistischen Ideal einer höheren Einheit verschrieben inszenierte er sowohl seine Kunst als auch seine Person im Licht des Geheimnisvollen. Als introvertierter Mensch versuchte Khnopff sich so gut wie möglich von der Welt abzuschotten, seine Werke verrätselte er bewußt, um sich wie hinter einer Maske hinter ihnen zu verstecken und das Publikum systematisch zu verwirren. Louis-Edmond Taye beschrieb Khnopff 1904 als „Reserviert wie ein Diplomat. Gepflegt und kühl. Mit den Allüren eines englischen Puritaners.“ Doch Khnopff war ebenso ein Mann des öffentlichen Lebens, der sich auf dem gesellschaftlichen Parkett genauso sicher bewegte wie in seinem dunklen Reich der Mysterien. Als Dandy der Décadence war Khnopff sehr auf seine äußere Erscheinung bedacht, der sein Ästhetenleben auch auf der Straße weiterlebte. Wenn er sein Atelier verließ, kleidete er sich wie ein Aristokrat mit Handschuhen, mit Ringen beladen und in der Hand eine weiße Lilie als Symbol der Reinheit haltend.

Fernand Khnopff
Sein Wahlspruch lautete „On n’a que soi“ („Man hat nur sich selbst“), dieses solipsistische Lebensmotto, verbunden mit dem stetigen Wunsch nach der Einsamkeit des Eremiten, spiegelt sich auch in seinem Atelierhaus wider, das er 1900 zusammen mit dem Architekten Édouard Pelseneer als Tempel des Ichs selbst entwarf, um sich darin zurückzuziehen und wie ein Mönch in die Kunst versenken zu können. Das Haus wurde 1902 fertiggestellt und orientierte sich eher am Wiener Jugendstil als am belgischen Art Nouveau, 1938 wurde es abgerissen. Nur wenige Besucher sollten in den Genuß kommen, das Atelierhaus zu betreten, das als synästhetisches Gesamtkunstwerk konzipiert war und alle Sinne ansprechen sollte. Die Gäste wurden im Vestibül von einem ausgestopften Pfau empfangen und gelangten danach in Khnopffs Atelier, das wie das gesamte Haus in den Farben Weiß, Blau und Rot gehalten war. Auf dem Boden des Ateliers befand sich ein magischer goldener Kreis, der Khnopff zur Meditation diente und in den er zum Malen seine Staffelei gestellt haben soll.
Khnopff betrachtete den Kreis als Zeichen der Vollkommenheit und verwendete ihn in Form von Medaillons häufig in seinen Gemälden und Zeichnungen. Auch an der Decke des Ateliers wiederholte sich der magische Kreis als Deckengemälde von Khnopffs Sternzeichen, der Waage. In einem scheinbar zufälligen Arrangement lagen Gemälde auf dem Boden oder waren an die Wände gelehnt. Die Luft wurde von Parfümzerstäubern mit wohlriechenden Essenzen gefüllt, während sich in einem großen Wasserbassin eine Säule mit der Bronze einer Amazone des deutschen Symbolisten Franz von Stuck spiegelte. Vorhänge aus blauer Seide verhüllten den Zugang zu einem weiteren Atelier, in dem sich die in Arbeit befindenden Werke befanden. Im blauen Zimmer im ersten Stock hing Khnopff Reproduktionen von Werken der Künstler auf, die er am meisten bewunderte, wie Edward Burne-Jones, Gustave Moreau oder Eugène Delacroix. Der letzte Raum war dem Porträt seiner geliebten Schwester Marguerite vorbehalten, von dem er sich Zeit seines Lebens niemals trennte.

Fernand Khnopff, Le maître de l’énigme, Petit Palais

Fernand Khnopff, Braune Augen und eine blaue Blume, Bleistift und Gouache auf Papier, 1905
Hypnos, den Gott des Schlafs, erkannte Khnopff als einzige Gottheit an.
Den wichtigsten Ehrenplatz in Khnopffs Refugium nahm jedoch eine Hypnos-Büste ein. Wie viele andere Symbolisten war Fernand Khnopff davon fasziniert, die Götterwelt der griechischen Mythologie wieder zum Leben zu erwecken, im Zentrum seines Interesses stand Hypnos, der Gott des Schlafes, aus dessen Schläfen kleine Flügel herauswuchsen. In der Überlieferung von Hesiod wurde Hypnos von Nyx, der Nacht, vaterlos geboren, sein Bruder war Thanatos, der Gott des Todes. Hypnos galt als sanftmütiger Gott, der durch den Schlaf die Hälfte des Lebens eines Menschen besaß. Hypnos war die einzige Gottheit, die Khnopff anerkennen wollte und zu dem er bemerkte: „Der Schlaf ist das Vollkommenste in unserer Existenz.“
Den Schlaf betrachtete er als unbewußten Zustand der kreativen Imagination, der Traum wurde später auch von den Surrealisten als Quelle der Inspiration entdeckt und in tranceartigen Schlafexperimenten erforscht. Khnopff fertigte mehrere Kopien einer dem griechischen Bildhauer Scopas zugeschriebenen Bronzestatuette des Hypnos aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. im British Museum in London an. Den bei der Originalbronze abgebrochenen linken Flügel hat er niemals rekonstruiert, sondern den Fragmentcharakter der Plastik beibehalten. Bei einigen Gipsversionen und Darstellungen auf Gemälden färbte Khnopff den Flügel blau, der Farbe der Romantik und der sehnsuchtsvollen Ferne. Als Hausgott und Beschützer seines kreativen Rückzugsorts präsentierte Khnopff Hypnos auf einem Altar.

Fernand Khnopff, Le maître de l’énigme, Petit Palais

Hypnos, Italien, Bronze, um 350-200 v. Chr.

Fernand Khnopff, Ein blauer Flügel, Öl auf Leinwand, 1894
Zu seinen eigenen in seinem Atelierhaus ausgestellten Werken gehörte Eine Hortensie, ein Frühwerk aus dem Jahr 1884, von dem er sich niemals trennen wollte. Viele für Khnopff charakteristischen Gestaltungsmerkmale sind in diesem schlichten Blumenstilleben bereits angelegt. Ähnlich wie in seinem Gemälde Schumann hörend rückt Khnopff das eigentliche Geschehen in den Hintergrund. In einem lichterfüllten Interieur sitzt eine Frau in ein Buch vertieft, doch ihre Umrisse sind nur schemenhaft zu erkennen, während der Blumentopf mit der Hortensie stark vergrößert im Bildvordergrund präsentiert wird. Eine auf der Tischdecke liegende rote Blume liegt in der Fluchtlinie zwischen der Hortensie und der Frau, ein Hinweis darauf, daß es sich um Khnopffs geliebte Schwester Marguerite handeln könnte. Die Hortensie wird vom oberen Bildrand abgeschnitten, was Khnopff auch bei seinen späteren idealisierten Frauenfiguren immer wieder anwenden sollte.

Fernand Khnopff, Eine Hortensie, Öl auf Leinwand, 1884
Mit Edward-Burne-Jones und den Präraffaeliten verband Fernand Khnopff eine enge Künstlerfreundschaft.
Beeinflusst wurde Fernand Khnopff von den glitzernden erotisch aufgeladenen Bildern Gustave Moreaus mit ihren düsteren Visionen der Bibel und der Mythologie. Noch näher standen ihm jedoch die englischen Präraffaeliten wie Edward Burne-Jones oder Dante Gabriel Rossetti. 1891 reiste Khnopff zum ersten Mal nach England, doch seine ersten Kontakte mit der englischen Kunstszene knüpfte er bereits 1886 und nahm 1890 an einer Ausstellung in London teil. Khnopff war so fasziniert von der Arts-and-Crafts-Bewegung, daß er sein anglophiles Dandytum bewußt nach dem Vorbild der englischen Künstler kultivierte. Mehrmals bereiste er London, wo er sich mit Edward Burne-Jones anfreundete und als regelmäßiger Gast in englischen Kunstzirkeln Korrespondent des Magazins The Studio wurde. Auf Vorträgen in Brüssel brachte Khnopff seine Verehrung für die Präraffaeliten und besonders Burne-Jones zum Ausdruck, mit dem er Zeichnungen austauschte, die sie mit gegenseitigen Widmungen versehen hatten.
Auch die Poesie von Christina Rossetti, die Schwester von Dante Gabriel Rossetti, inspirierte Khnopff zu mehreren Bildern. I Lock My Door Upon Myself (Ich schließe mich selbst ein) ist ein herausragendes Beispiel für die Funktionsmechanismen des Symbolismus, das Symbol von seiner ihm innewohnenden Bedeutung zu trennen und mit dem Collageprinzip Bildfragmente zu einem neuen Bildganzen zu montieren, das nur durch die malerische Gleichbehandlung der einzelnen Elemente zusammengehalten wird. Khnopff wurde zu dem Gemälde, das er 1891 schuf, von einem Gedicht Rossettis mit dem Titel Who shall deliver me? (Wer wird mich erlösen?) inspiriert. Christina Rossetti war streng religiös und gibt in ihrem Gedicht die Gedankenwelt einer nach Einsamkeit suchenden Seele, die sich von den Vergnügungen des Lebens abwendet, wieder. Khnopffs visuelle Umsetzung von Rossettis Versen webt ein dichtes Netz von Assoziationsketten, die sich einer klaren Deutung entziehen.

Fernand Khnopff, I Lock My Door upon Myself, Öl auf Leinwand, 1891
Die Schwermut des In-sich-Zurückziehens, des Abschieds von der Außenwelt, kommt in der weiblichen Hauptfigur des Bildes zum Ausdruck, die das Kinn nachdenklich auf die Hände stützt. Im Vordergrund stehen drei einzelne rote Lilien, die die Haarfarbe der Frau aufnehmen und das Bild vertikal strukturieren. Horizontal wird das Bild von drei übereinander gestaffelten Erzählebenen in drei gleichgroße Streifen unterteilt. Im Vordergrund befindet sich eine an ein schwarzes Tuch erinnernde schwarze Fläche, die auch Assoziationen an ein Klavier oder einen Sarg weckt. Der Mittelbereich wird vom Porträt der weiblichen Figur und den Blüten der Lilien dominiert, die das Bild in vier Kompartimente unterteilen. Im oberen Bildstreifen befinden sich zwei Ausschnitte, die den Blick auf den Außenraum mit Häuserfassaden bzw. Gebäuden eröffnen, die perspektivisch jedoch nicht miteinander zusammenhängen.
Zwischen diesen Bild-im-Bild Bereichen befinden sich eine geflügelte Hypnos-Büste vor einer Art Tür sowie zwei kreisrunde Spiegel, die einen weiteren Bildraum, den außerhalb des Bildes, in dem sich der Betrachter befindet, reflektieren. Die Kreisformen der Spiegel, für Khnopff ein Symbol der Vollkommenheit, bilden einen Kontrast zum geometrischen Raster der anderen Bildelemente. Durch die Multiplikation der Bildräume verliert der Betrachter die Orientierung und bleibt gefangen in einem Zwischenraum, der weder Interieur noch Exterieur darstellt. Wie eine Barriere schiebt sich die Bildstruktur zwischen das Bild und den Betrachter und öffnet illusionäre Türen, hinter denen die miteinander verwobenen Handlungsstränge wie in einem Traum, der nach dem Erwachen verblaßt, ins Nichts führen.

Fernand Khnopff, Who shall deliver me?, Farbstift auf Papier, 1891
Der Schein in Khnopffs Bildern trügt, sie sind Labyrinthe der Logik, wenn sich der Betrachter dessen bewußt wird, ist es bereits zu spät.
Der in I Lock My Door Upon Myself durchscheinende Mystizismus des 19. Jahrhunderts entwickelte sich aus der Sehnsucht, den Schleier vor den alltäglichen Dingen der Welt zu lüften, um einen Blick auf die dahinter verborgene höhere Wirklichkeit werfen zu können. Für Fernand Khnopff stellte die Erfahrung eines Kunstwerks, das den Zugang zu den Sphären einer universalen Schönheit öffnete, ein mystisches Erlebnis dar, er selbst äußerste sich dazu, wie folgt: „Die bildende Kunst ist im Wesentlichen ein Idealismus: die tiefsten Träume erhalten eine ganz persönliche Interpretation.“ Eines der wesentlichen Ziele von André Breton, der diese 1924 in seinem Manifest des Surrealismus formulierte, hat Khnopff damit bereits vorweggenommen. Das Geheimnisvolle schöpft sich bei Khnopffs Werken nicht aus den Symbolen, die er raffiniert in seine Bildthemen einwebt, sondern aus der suggestiven Anziehungskraft seiner Bildsprache, die das Unterbewußtsein des Betrachters anspricht und bei ihm eigene Assoziationsketten auslöst. Khnopff schafft es, beim Betrachter ein Gefühl von Vertrautheit hervorzurufen und vom ersten Moment an eine geistige Beziehung zu seinen Werken herzustellen.
Unterstützt wird diese emotionale Verbundenheit durch seine meisterhafte fast fotorealistische Darstellungsweise, in der er die von der Fotografie neu entdeckten Gesetze der Optik, wie Tiefenschärfe, Unschärfe und den scheinbar zufällig gewählten Bildausschnitt der spontanen Momentaufnahme subtil auf die Malerei überträgt. Doch wenn der Betrachter erst bemerkt, daß der Schein trügt, ist er längst in die Falle gegangen und hat sich in Khnopffs geschickt angelegten Labyrinthen voller Magie und Rätsel hoffnungslos verirrt. Der Widerspruch zwischen der Perfektion der Darstellung und ihrer kontextuellen Verfremdung führt zu einer Verunklärung des Bildinhalts, dessen Symbole nur in einer intensiven Kommunikation mit dem Werk entschlüsselt werden können. Die Vieldeutigkeit der Bildzeichen macht eine Interpretation von Khnopffs Werken zu einer fast unlösbaren Aufgabe. Ein charakteristisches Stilmerkmal des Symbolismus ist es, die verwendeten Symbole aus ihrem vertrauten Kontext herauszulösen und in schöpferischer Freiheit mit neuen Inhalten zu belegen, so daß der Betrachter vor einem arithmetischen Rätsel mit mehreren Unbekannten steht.

Fernand Khnopff, Zukunft oder Junge Engländerin, Marmor, 1898

Fernand Khnopff, Verfall, Pastell auf Papier, 1914
Khnopff betonte, daß er nur für sich selbst male, deshalb vermischte er die traditionelle Ikonografie mit einer subjektiven Privatmythologie, die nur von wenigen eingeweihten Betrachtern dechiffriert werden konnte. Kommentare oder Interpretationen zu seinen Bildern gab er grundsätzlich nicht, der Betrachter sollte im Dialog mit dem Werk auf sich selbst zurückgeworfen werden, um so den tieferen Sinn hinter den Dingen und seine eigene Psyche zu ergründen. Die rhetorische Frage, ob Kunstwerken ein Sinn innewohne, beantwortete Khnopff folgendermaßen: „Kann es sein, wie Skeptiker behaupten, daß jedem Kunstwerk nichts anhaftet als das, was wir selbst darin finden; daß wir es nicht aufgrund seiner inneren Werte bewundern, sondern weil es bestimmten unserer eigenen Gefühle entspricht und wir in ihm nur ein Spiegelbild unserer Seele suchen.“
Fosset, verschwommene Kindheitserinnerungen an einsame Landschaften.
Die Reflexion von psychischen Stimmungen durch die äußere Realität wurde bereits in Fernand Khnopffs frühester Kindheit geprägt. In Fosset in den belgischen Ardennen, wo seine Familie ein Landhaus besaß, verbrachte er regelmäßig die Sommerferien. Die verinnerlichten Naturimpressionen, die Khnopff dort in überwiegend kleinformatigen Gemälden festhielt, bilden in ihrer meditativen Stille bereits das Substrat, auf dem später seine Stadtansichten von Brügge reifen sollten. Dabei ging es ihm nicht um die exakte Wiedergabe der Natur, sondern um atmosphärische Phänomene, die die Orte und Objekte der Tageszeit entsprechend in einem anderen, geheimnisvollen Licht erscheinen ließen. Die Übertragung seiner seelischen Verfassung auf die Darstellung der Landschaft steht in direkter Tradition der deutschen Romantik, doch Khnopff wollte vor allem erinnerte Bilder wiedergeben, weshalb er Fosset und Umgebung verschwommen mit verwischten Pinselstrichen darstellte, so als ob er die Linse einer Kamera bewußt unscharf eingestellt hätte.

Fernand Khnopff, In Fosset. Am Abend, Öl auf Leinwand, 1886

Fernand Khnopff, Stilles Wasser, Öl auf Leinwand, 1894
Bereits in seinen Landschaftsbildern ist die Einsamkeit das zentrale Thema, Menschen tauchen nur vereinzelt auf oder verraten in Form von scheinbar verlassenen Gehöften ihre Anwesenheit, bis sie in den Ansichten von Brügge ganz verschwinden. Auch die Spiegelung von Bäumen im Wasser als Symbol der seelischen Tiefe und als Spiel mit Schein und Wirklichkeit gehört zum Repertoire des Symbolismus, das später in den Kanälen von Brügge wiederkehrt. Zahlreiche Landschaftsbilder von Khnopff folgen einer zur Abstraktion tendierenden geometrischen Struktur, wie z.B. In Fosset. Unter den Tannen von 1894. Eine Allee exakt senkrecht stehender Bäume zieht den Betrachter in die Tiefe, während sie zugleich den Horizont verstellt. Der verstellte Horizont wurde später in der Pittura Metafisica Giorgio de Chiricos eines der wichtigsten Gestaltungslemente, um dem Bildraum eine Aura des Geheimnisvollen zu geben.
Fernand Khnopff war der Star des Wiener Jugendstils und Wegbereiter für die Kunst von Gustav Klimt.
Khnopff präsentierte das Bild 1898 bei der ersten Ausstellung der Wiener Secession, mit der er bereits seit ihrer Gründung 1897 als korrespondierendes Mitglied in Verbindung stand. Sein wachsender internationaler Erfolg wurde dadurch bestätigt, daß ihm ein eigener Raum zugeteilt wurde, wo er insgesamt 21 Werke zeigte. Die junge Künstlergeneration Österreichs feierte Khnopff mit mehreren Festen und widmete ihm eine Sonderedition der Zeitschrift der Wiener Secession Ver Sacrum, mit deren programmatischen Titel sie einem „Heiligen Frühling“ der Kunst entgegenfieberte. Khnopff wurde die Ehre zuteil, das gesamte Heft zu gestalten, was im Sinne der Idee des Gesamtkunstwerks einer künstlerischen Adelung gleichkam. Vor allem auf Gustav Klimt übte er einen großen Einfluß aus, neben den mythologischen Themen mit seinen enigmatischen Sphinxdarstellungen waren es besonders die Landschaftsbilder wie In Fosset. Unter den Fichten, die Klimt zu ähnlichen Werken inspirierten. Khnopffs geometrische Rhythmisierung der Komposition durch vertikale Stämme, den hohen Horizont und die kontemplative Ausstrahlung findet sich in vielen Landschaftsdarstellungen Klimts vom Attersee wieder. Zwischen 1898 und 1901 nahm Khnopff insgesamt acht Mal an Ausstellungen der Wiener Secession teil.

Fernand Khnopff, In Fosset. Unter den Fichten, Öl auf Leinwand, 1894
Neben einsamen Naturreflexionen bildeten vor allem weibliche Porträts ein zentrales Thema in Khnopffs Werk. Seine bevorzugten Modelle waren enge Familienangehörige wie seine Mutter oder seine Schwester, doch er nahm auch gerne Porträtaufträge für Kinderdarstellungen an. Kleinkindern im Vorschulalter gab er die ernsten Gesichtszüge von Erwachsenen, so als ob sie sich der Probleme einer Welt im Umbruch bereits bewußt wären. Khnopff verachtete zwar den blinden Fortschrittsglauben seiner Zeitgenossen, nutzte die Errungenschaften der modernen Technik wie die Fotografie jedoch auf pragmatische Weise, wenn es darum ging, seine Bildfindungen zu vervollkommnen. Mehrere Porträtaufträge führte er nach Fotografien aus, darunter das posthume Porträt der im Alter von zwanzig Jahren verstorbenen Marguerite Landuyt.
Die junge Frau mit weißem Kleid wirkt wie eine geisterhafte Erscheinung, die im Gedächtnis ihrer Familie allmählich verblaßt, um für immer hinter der Tür, vor der sie dargestellt ist, zu verschwinden. Wie bei vielen Porträts hat Khnopff die Füße abgeschnitten, dadurch wird das Bild zu einem Fenster, das eine Barriere zwischen der Figur und dem Betrachter aufbaut. Frauen porträtierte Khnopff stets in einer völligen Negierung sinnlicher Reize mit hoch geschlossenen Kleidern, sie sind Allegorien der Keuschheit und der Tugend, die sich jeglicher körperlichen Annäherung entziehen.

Fernand Khnopff, Marguerite Landuyt, Öl auf Leinwand, 1889
Marguerite, geliebte Schwester und Prototyp androgyner Schönheit.
Von der Ausstrahlung seiner Schwester Marguerite war Fernand Khnopff regelrecht besessen, sie verkörperte für ihn den Idealtypus des weiblichen Schönheitsideals, das deutlich androgyne Züge aufwies und dem Vorbild der Präraffaeliten am nächsten kam. Die asexuelle Vollkommenheit der Androgynie war für Khnopff das höchste Ziel und entsprach klar seinen eigenen introvertierten keuschen Figuren, die ein Spiegelbild seiner selbst darstellten. Sein freiwilliges Eremitendasein wurde nur durch die platonische intime Verbundenheit mit Marguerite mit Leben erfüllt. In seinem Porträt aus dem Jahr 1887 stellt Khnopff Marguerite wie eine Karyatide aus Alabaster dar, eingeschnürt in ein weißes Kleid mit hohem Kragen und mit Handschuhen, den linken Arm seltsam hinter der Taille verschränkt, wird sie zum Prototypen der mysteriösen jungen Frau, die zugleich unnahbar und melancholisch wirkt. In sich gekehrt und vor einer verschlossenen Tür stehend stellt sie ein Symbol der Unerreichbarkeit dar, das in seiner Makellosigkeit seine Überlegenheit gegenüber der Femme Fatale demonstriert.
Das Ewig-Weibliche spielt in Fernand Khnopffs Werk eine zentrale Rolle, das er durch die Bilderwelt der Mythologie zu ergründen suchte. Doch anders als bei Gustav Klimt erscheinen seine Frauengestalten trotz ihrer sinnlichen Ausstrahlung nicht den irdischen Verlockungen des Fleisches erlegen zu sein. Bemerkenswerterweise hat Venus, die Göttin der Liebe, nie Eingang in Khnopffs Bildrepertoire gefunden, sondern nur jene weiblichen Figuren, die seiner Idealvorstellung der Androgynie am nächsten kamen, indem sie feminine und maskuline Merkmale in sich vereinigten. Khnopffs neoplatonisches Verständnis der Liebe war jedoch nicht frei von Versuchungen, der Kampf zwischen animalischer Triebhaftigkeit und spirituellem Idealismus wurde für ihn zu einem der wichtigsten Themen in seinem Werk.

Fernand Khnopff, Marguerite Khnopff, Öl auf Leinwand, 1887
Der Fortpflanzungstrieb und der Drang, etwas Geistiges zu erschaffen, bildeten für Khnopff ein Spannungsfeld, aus dem er das ästhetische Ideal für seine Figuren schöpfte. Körperliche Schönheit betrachtete er nur als Abbild göttlicher Schönheit, das jedoch hilfreich sein konnte, um sich des höheren Wesens der Liebe und der Schönheit bewußt zu werden. Diese schmale Gratwanderung zwischen den Verlockungen der Sinnlichkeit und dem Streben nach ästhetischer Vergeistigung verkörpert am deutlichsten die mythologische Figur der Sphinx. Khnopff zeigt diesen Dualismus häufig im Ringen eines tugendhaften Helden mit der Sphinx, deren Kopf und Flügel für das Geistige stehen und ihr Körper für animalische Sexualität.
Liebkosungen – Oedipus‘ Kampf gegen die Verlockungen der Sinnesfreuden.
Im Symbolismus und in den Kreisen der Décadence wurde ein ausgeprägter Kult um die Androgynie betrieben. Diese Haltung war zugleich revolutionär und reaktionär, indem sie sowohl die traditionellen Geschlechterrollen in Frage stellte, als auch das Geschlechtliche als Thema negierte. In Fernand Khnopffs bekanntestem Werk Les Caresses (Liebkosungen), einer Ikone des Symbolismus, schmiegt sich Oedipus in Gestalt eines Hermaphroditen an eine Sphinx in Form einer Gepardin. Es handelt sich um eines der wenigen Bilder in Khnopffs Werk, in denen ein direkter Körperkontakt zwischen den Protagonisten dargestellt wird, um den tödlichen Kampf zwischen einem dem tugendhaften Idealismus verpflichteten Leben und der lasterhaften Sinnlichkeit erotisch aufzuladen.
Les Caresses wurde 1898 zum ersten Mal in der Wiener Secessionsausstellung gezeigt, wo es die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zog, denen damals wie heute eine finale Deutung des Gemäldes versagt geblieben ist. Vor Zypressen und antiken Architekturelementen in einer rötlichen Landschaft stehend liebkost Oedipus mit seiner Wange den Kopf der Sphinx, die zärtlich die Augen schließt. Oedipus, dessen Brustwarzen von zwei metallenen Sternen bedeckt sind, blickt traumverloren ins Leere, während er einen Stab mit einer geflügelten Glaskugel hält, eventuell ein Hinweis auf den von Khnopff so sehr verehrten Gott Hypnos mit den Flügeln an den Schläfen. An kabbalistische Zeichen erinnernde Hieroglyphen auf der Wand hinter der Sphinx huldigen dem Okkultismus des 19. Jahrhunderts, in diesem Zusammenhang wird Oedipus, der sich selbst blendet, zum Seher, indem er den Blick auf sein Unterbewußtsein und die hinter den Dingen verborgene übergeordnete Wirklichkeit richtet.

Fernand Khnopff, Liebkosungen, Öl auf Leinwand, 1896

Fernand Khnopff, Skizze für Liebkosungen, Farbstift und Weißhöhung auf Papier, 1896
Die Lippen von Oedipus sind fest verschlossen, während seine Augen weit geöffnet sind, für Khnopff ein Ausdruck des aktiven Schweigens und damit der Inspiration. Die Sphinx stellt Oedipus vor die Wahl zwischen sinnlichem Vergnügen und die Macht durch Selbstkontrolle. Der für eine Sphinxdarstellung ungewöhnliche Körper einer Gepardin ähnelte Khnopffs eigenen Aussagen zufolge der Schlange am stärksten, da sie sich beim Angriff anschleiche, und auch der Biegsamkeit des Schlangenkörpers am nächsten kam. Die Sphinx tritt als Verführerin, als Femme Fatale auf, die in ihrer Schönheit die Androgynie von Oedipus herausfordert und einen ambivalenten Gefühlszustand aus Verlockung, Bezauberung und Unterwerfung hervorruft.
Als Symbolist erfand Khnopff für die Gestalten der Mythologie neue, rätselhafte Attribute.
Wie die Sphnix hat Khnopff die mythologische Gestalt der Medusa in mehreren Werken thematisiert, doch er löst sie aus dem antiken Kontext und transformiert sie, wie im Symbolismus üblich, mit völlig ungewohnten, eigenwilligen Attributen. In der antiken Ikonografie verkörpert Medusa die Femme Fatale, zugleich Objekt der Begierde und todbringendes Monstrum, das seine Macht über männliche sexuelle Fantasien demonstriert. Ihre Enthauptung durch Perseus symbolisiert in der Trennung des Kopfes vom Körper den Triumph des Geistes über die Verlockungen des Fleisches. In einer seiner beiden Bronzeplastiken, beide um 1900 entstanden, übernimmt Khnopff das bekannte Bild des Medusenhaupts gemäß der antiken Überlieferung. Ähnlich wie Caravaggio stellt er sie mit Schlangen umwunden und mit weit aufgerissenen Augen und Mund dar, im Moment kurz nach dem tödlichen Hieb durch das Schwert von Perseus, als sie sich mit Entsetzen ihrer Endes bewußt wird. Ungewöhnlich ist jedoch die Kombination des Medusenhaupts mit den Flügeln des Hypnos, die ihr zwischen den Schlangenhaaren aus den Schläfen wachsen. Die Vergeistigung des Hauptes wird durch die Assoziation mit Schlaf und Traum noch gesteigert.

Fernand Khnopff, Das Blut der Medusa, Farbstift auf Papier, 1898

Fernand Khnopff, Medusa, patinierte Bronze, 1900
Ähnlich verfährt Khnopff mit dem Mythos in seinem Pastell Schlafende Medusa. Die Schlange, Symbol der chthonischen Gottheiten, der Dunkelheit und des Bösen, wird ersetzt durch den Adler, der als Antipode zur Schlange die Sonne und das Gute symbolisiert. Medusas Haupt sitzt auf einem mächtigen Vogelkörper, dessen Gefieder jegliche erotischen Assoziationen unterdrückt, indem es ähnlich wie bei Khnopffs Frauenporträts mit hochgeschlossenen Kleidern entblößte Haut vollständig bedeckt. Die Überlegenheit des Adlers über die Schlange verkehrt die Aussage des Mythos in ihr Gegenteil und verwandelt Medusa in eine positive Gestalt. Khnopff stellt den Vogel der Sonne jedoch in einer nächtlichen Umgebung dar, der androgyne Kopf im Seitenprofil hat Augen und Mund fest geschlossen und drückt so durch sein passives Schweigen spirituelle Zurückgezogenheit aus.

Fernand Khnopff, Schlafende Medusa, Pastell auf Papier, 1896
Die Hinwendung der Symbolisten zu antiken Sujets bedeutete jedoch nicht, daß sie zeitgenössischen technischen Innovationen gegenüber nicht aufgeschlossen gewesen wären. Die Entwicklung der Fotografie gab den Künstlern des 19. Jahrhunderts ein neues Medium in die Hand, mit dessen Hilfe sie sich der Wirklichkeit auf eine völlig neue Weise nähern konnten und das Sehen in das Zentrum ihrer Arbeit rücken konnten. Khnopff besaß Kameras und Ausrüstung für professionelle Ansprüche und obwohl er als Amateurfotograf sein technisches Verständnis der fotografischen Praxis herunterspielte, sind seine selbst angefertigten Fotografien von außerordentlicher Qualität. In seinem Archiv wurden mehr als 40 Porträts seiner Schwester Marguerite gefunden, mit denen er Posen und Gesten studierte oder die Wirkung von Draperien, Lichteffekten und Accessoires testete. Die sorgfältig komponierten Fotos übertrug er anschließend auf Papier oder Leinwand, wobei er überflüssige Details entfernte oder die Stimmung ins Übernatürliche steigerte.

Marguerite Khnopff für „Das Geheimnis“ posierend, Aristotypie nach Glasnegativ, um 1902

Fernand Khnopff, Spiegel-Geheimnis, Pastell auf Leinwand und Farbstift auf Papier, 1902
Zeichnung oder gehöhtes Foto? Khnopffs multiple Kunst stellte schon um die Jahrhundertwende die Authentizität des Originals in Frage.
Die Fotos dienten Khnopff als Erinnerungsspeicher und als Dokumentation über Themen bestimmter Gemälde. In Memoires (Erinnerungen) z.B. benutzte er Fotos seiner Schwester Marguerite, um mehrere Ansichten von ihr in einer Collage vor einer neuen Umgebung zusammenzustellen. Das großformatige Pastell von 1889 aus den Musées Royaux des Beaux-Arts in Brüssel ist zu fragil für den Transport und konnte im Petit Palais deshalb nur als Projektion gezeigt werden. Sieben junge Frauen, nach der neuesten Mode gekleidet, befinden sich in einer parkartigen Landschaft, die im Gegensatz zur detaillierten Darstellung der Figuren nur skizzenhaft ausgeführt ist. Khnopff hat die Figurengruppe direkt nach Fotos von seiner Schwester Marguerite gezeichnet und sie wie eine Collage vor dem Hintergrund arrangiert, wobei er bewußt auf einen Schattenwurf der Figuren verzichtete.

Fernand Khnopff, Studie zu Erinnerungen, gehöhtes Foto, 1888

Fernand Khnopff, Studie zu Erinnerungen, Rötel auf Papier, 1887

Fernand Khnopff, Erinnerungen, Pastell auf Papier, 1889
Sechs der Frauen halten einen Tennisschläger, doch sie spielen kein Tennis, das zur damaligen Zeit gerade populär wurde, sondern stehen wie erstarrt da, ohne miteinander zu kommunizieren und blicken ins Leere, jede einzelne wirkt in ihrer Welt gefangen. Das Bild ist von der melancholischen Stimmung eines Herbstnachmittags erfüllt und spiegelt verflossene Augenblicke wider, die aus einer subjektiven Innenwelt aufsteigen und die Wahrnehmung der objektiven Außenwelt überlagern. In Memoires hebt Khnopff die Einheit von Raum, Zeit und Narrativ auf und läßt seine mit der magischen Zahl Sieben vervielfachte Schwester zur Vorläuferin der einsamen Manichini der Pittura Metafisica werden. Nicht zuletzt Carlo Carràs puppenhafte Figuren mit Tennisschläger scheinen direkt von Khnopffs Figurengruppe inspiriert zu sein.
1888 beauftragte Khnopff den renommierten Fotografen Albert Edouard Drains, bekannt unter dem Namen Alexandre, einige seiner eigenen Zeichnungen und Gemälde zu fotografieren. Alexandres Aufnahmen von Khnopffs Werken wurden mit dem Verfahren der Platinotypie, die dauerhaftere Fotos lieferte als mit Silbersalzen hergestellte, auf hochwertigem Fotopapier abgedruckt. Die Abzüge wurden anschließend auf Pappen mit dem Reliefstempel Alexandre photographe aufgeklebt, die Höhe der Auflage lag wahrscheinlich bei maximal 15 Abzügen. Die Platinotypie erzielte matte, tiefschwarze Fotos mit einer weichen, dunklen Körnung. Khnopff betrachtete jeden Abzug als neues Original im Miniaturformat, das er so minutiös nachbearbeitete, daß es mitunter schwierig ist, zu beurteilen, ob es sich um eine Zeichnung oder ein gehöhtes Foto handelt.

Fernand Khnopff, Diffidence, gehöhtes Foto, 1894

Fernand Khnopff, Rote Lippen, gehöhtes Foto, 1897
Mit weichen Buntstiften, Aquarellfarben oder Pastellkreide modellierte er Licht- und Schattenpartien nach oder konturierte einige Linien in den Gesichtern wie Haarlocken und Mundwinkel, um den Ausdruck zu verstärken. Dabei wich er bei der Farbgebung öfters bewußt vom Original ab, so daß wie in der Musik Variationen ein und desselben Themas entstanden, die Lippen der Frauen erhielten z.B. einen roten Farbakzent oder den Flügel von Hypnos färbte er blau. Jedes gehöhte Foto signierte Khnopff mit seinem Monogramm oder unterschrieb auf der Trägerpappe. Mehrere verloren gegangene Werke Khnopffs, wie z.B. Sibylle oder Arum Lily sind nur durch die gehöhten Reproduktionen überliefert. Durch die Neuinterpretation einer nostalgisch verklärten Vergangenheit erreichte Khnopff eine subtile Verschiebung der visuellen Erinnerung, die die Wirklichkeit von Kunstwerken und ihren Motiven in Frage stellt. Auch im Kontext von individuellem Original, seiner Reproduzierbarkeit und Authentizität erscheint Khnopffs Vorgehen als höchst moderner Ansatz auf dem Weg zur multiplen Kunst des 20. Jahrhunderts.
Brügge, Venedig des Nordens und melancholischer Sehnsuchtsort.
Zwischen 1889 und 1892 und zwischen 1902 und 1905 schuf Khnopff mehrere Stadtansichten von Brügge, wobei er diese oft mit einem Frauenporträt kombinierte. Georges Rodenbach, einer von Khnopffs bevorzugten Schriftstellern, veröffentlichte 1892 den Roman Bruges-la-Morte (Das tote Brügge), für den er den Frontispiz gestaltete. Das Buch enthielt 35 touristische Fotografien von Brügge, die Khnopff zu mehreren Werken inspirierten. Die melancholische Stimmung des Buchs reflektierte genau Khnopffs eigene Gefühlswelt, indem er die Beschreibung der menschenleeren Kanäle und Gassen mit seinen eigenen Erinnerungen verschmolz. In Bruges-la-Morte nimmt Brügge die Rolle eines lebendigen Organismus ein, worin Khnopff ein verinnerlichtes Selbstporträt sah. Seine schwermütigen Stadtansichten dieser verwunschenen Nekropole hat er stets von kommerziellen Schwarzweiß-Fotos abgezeichnet, was ihn auch dahingehend beeinflußte, die vorwiegend grauen Tonwerte beizubehalten.

Fernand Khnopff, In Brügge. Ein Portal, Farbstift und Pastell auf Papier, 1904

Fernand Khnopff, Erinnerungen an Flandern. Ein Kanal, Farbstift und Pastell auf Papier, 1904
Brügge bedeutete für Fernand Khnopff nostalgisch verklärte Kindheitserinnerungen, die er um jeden Preis vor der Banalität der Wirklichkeit schützen wollte. Khnopffs Vater Edmond stammte aus einer Aristokratenfamilie, die sich aus Österreich kommend im 18. Jahrhundert in Brügge niederließ. Brügge mit seinen vielen Kanälen wurde als Venedig des Nordens bezeichnet und zog mit seiner von Mystik und Verfall geprägten Atmosphäre zahlreiche Künstler an, darunter William Morris, Holman Hunt, Christina Rossetti und Stéphane Mallarmé. Durch Brügge fühlte Khnopff auch eine tiefe Verbundenheit mit Hans Memling, dem flämischen Meister, der im 15. Jahrhundert dort lebte und mit dem er dessen Vorliebe für eine präzise Zeichenkunst teilte. Bis zum Alter von sechs Jahren lebte Fernand Khnopff in Brügge, wo er zusammen mit seinem Bruder Georges ohne Spielgefährten oft sich selbst überlassen war und die meiste Zeit im Garten eines altmodischen Patrizierhauses verbrachte.
Die herrschaftlichen Häuser von Brügge mit ihren geschlossenen Innenhöfen und ihren Salons, die nur einmal im Jahr für offizielle Anläße geöffnet wurden, wirkten düster und verlassen. In der Gefühlswelt einer für Melancholie und Stille empfänglichen Kinderseele muß dieser magische Ort unauslöschliche Spuren hinterlassen haben. Khnopff erklärte 1899: „Ich verbrachte meine Kindheit in Brügge, welche damals wirklich eine tote Stadt war, links liegengelassen von den Besuchern. Sorgfältig behalte ich ferne, jedoch sehr präzise Erinnerungen.“ Um den flüchtigen Glanz dieser nostalgischen Sehnsucht zu bewahren, vermied es Khnopff Zeit seines Lebens, nach Brügge zurückzukehren. Pol de Mont vertraute er an: „Was, wenn man es verdorben hätte.“ Als er 1907 wegen einer wichtigen Angelegenheit doch gezwungen war, in die Stadt seiner Kindheit zurückzukehren, nahm er am Bahnhof eine Droschke und trug während der Fahrt eine Brille mit schwarzen Gläsern. So war er davor geschützt, ansehen zu müssen, wie sich das Gesicht der Stadt während der letzten Jahrzehnte verändert hatte, was seine kostbaren Erinnerungen ausgelöscht hätte.

Fernand Khnopff, L’entrée du béguinage, Kreide und Pastell auf Papier, 1904

Fernand Khnopff, In Brügge. Der See der Liebe, Schwarze Kreide, Bleistift und Pastell auf Papier, 1904-1905
„Erkenne dich selbst.“ – Fernand Khnopffs Bilder sind eine metaphysische Bühne, die den Betrachter sein eigenes Nichtwissen bewußt werden läßt.
Für die Visualisierung der Stadtansichten von Brügge wählte Khnopff den Bildausschnitt meistens so, daß der obere Bereich der Gebäude abgetrennt wurde, so als ob er die Stadt aus der Perspektive eines Kindes wiedergeben wollte. Bei allen Arbeiten der Brügge Serie wird der Dualismus zwischen Abbild und Wirklichkeit deutlich, in den Widerspiegelungen der Gebäude auf dem Wasser der Grachten, und dem eigenen Spiegelbild, das die Frau in Mein Herz weint um die Vergangenheit küßt. Das Heraufbeschwören einer tiefen Innerlichkeit durch von Poesie durchdrungener Architektur, die die Kulisse für eine metaphysische Bühne der Melancholie bildet, nimmt bereits Giorgio de Chiricos Pittura Metafisica mit seinen geheimnisvollen, verlassenen Arkaden Ferraras vorweg.
Sowohl Khnopffs erinnerten Kindheitsträumen von Brügge wie auch seinen ätherischen Frauenfiguren ist eines gemeinsam: sie sind unerreichbar. Hierin offenbart sich eines der Grundprinzipien des Symbolismus, nämlich daß die absolute platonische Idee immer etwas Unerreichbares bleiben muß. Denn würde eine Idee mit den Mitteln der banalen Materialität realisiert, würde sie ihren Zauber verlieren und in sich zusammenstürzen. In Bezug auf die symbolistische Malerei erklärte Mallarmé: „Es kommt nicht darauf an, den Gegenstand zu malen, sondern die Wirkung.“ Für Fernand Khnopff öffnete die Kunst ein Tor zu einer jenseitigen Wirklichkeit, in der er wie ein Alchimist ein neues Periodensystem aus Symbolen erschuf, das eine Metaphysik endloser Assoziationsketten heraufbeschwört. Seine Kunst ist ein Spiegelkabinett, dessen psychologische Wirkung das Spiegelbild des Betrachters immer wieder multipliziert, um ihn wie die Inschrift über dem Apollotempel von Delphi mit der Aufforderung zu konfrontieren: „Erkenne Dich selbst.“ Wie Platon geht es Khnopff um die Bewußtbarmachung des eigenen Nichtwissens, um dadurch die Tugend zu kultivieren und die eigene Seele zu verfeinern.

Fernand Khnopff, Mit Grégoire de Roy. Mein Herz weint um die Vergangenheit, Bleistift, Farbstift und weiße Kreide auf grauem Papier, 1889
Khnopffs Figuren sind gefangen im Spannungsfeld zwischen menschlicher Hinfälligkeit und göttlicher Schönheit, ihr Idealismus spiegelt vergangene Welten und verkörpert zugleich die Vision zukünftiger Welten. Mit dem Verlöschen von Khnopffs künstlerischer Produktion vor dem Ersten Weltkrieg und seinem Tod 1921 ging eine seit über 2000 Jahren andauernde Epoche zu Ende, in der Schönheit, Mystik und Erkenntnis keine Widersprüche waren. Fast 100 Jahre nach Fernand Khnopffs Tod hat in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie des Digitalzeitalters ein Bild nur noch drei Sekunden Zeit, um dem Betrachter die Rätsel seiner Zeit zu offenbaren. Was sich dabei auftut, sind Abgründe der Banalität, viel Lärm um nichts, während sich der Mensch den Algorithmen der künstlichen Intelligenz unterwirft. Die Menschheit ist dabei, dem Universum seine letzten Geheimnisse zu entreißen und Fotos von Schwarzen Löchern zu schießen, doch der höhere Sinn dieses menschlichen Tuns bleibt hinter deren Ereignishorizont verborgen. Fernand Khnopff hätte dieses Treiben sicher mit dem Spott des weltgewandten Dandys goutiert und sich für immer in seinem Tempel des Ichs verschlossen. Denn er wußte es schon immer: „On n’a que soi.“ („Man hat nur sich selbst“).
11.12.18 – 17.03.19 Petit Palais, Paris