Thomas Kastura
Lazarett in St. Petersburg, 1881
Mussorgsky liegt im Sterben.
Mussorgsky erregt
Viktor? Bist du das, Viktor?
Arzt
Ruhig, Modest Petrowitsch, ganz ruhig.
Mussorgsky
Wer spricht da? Wo bin ich?
Arzt
Sie sind im Nikolaj-Militärhospital und ich bin ihr Arzt. Sie sind in Sicherheit und niemand zwingt Sie, von hier wegzugehen.
Mussorgsky im Wahn
Aber ich muß meine Oper überarbeiten. Nein, ich muß in den Dienst gehen und danach meine Oper überarbeiten. Oder nein, ich werde zuerst meine Oper überarbeiten und danach in den Dienst gehen. Und ich muß meinen Freund Viktor treffen. Zuerst Viktor treffen, dann die Oper, dann der Dienst. Wo ist mein Mantel?
Arzt
Sie sind schon lange nicht mehr im Staatsdienst. Und Viktor Hartmann ist seit acht Jahren tot. Sie müssen nirgendwohin. Schwester!
Erste Krankenschwester
Rausgeschmissen haben sie ihn,
Zweite Krankenschwester
weil er gesoffen hat wie ein Loch!
Erste Krankenschwester
Ausgebuht haben sie seine Oper,
Zweite Krankenschwester
weil sie einem bizarren Geist entsprang.
Erste Krankenschwester
„Mussorgsky ist beinahe ein Idiot“,
Zweite Krankenschwester
sagten Stassow und Balakirew.
Arzt
Hören Sie auf, den Kranken zu verspotten. leise Wo er doch nicht mehr lange zu leben hat.
Mussorgsky
Ach Viktor! Laß uns zusammen an die Newa hinuntergehen und die Schwäne füttern. Du nimmst Deine Skizzenmappe mit und ich meine Notenblätter. Dann sehen wir uns die Menschen an und die Tiere und geben sie wieder, so wie sie sind: elegant und häßlich, lustig und düster, glücklich und verzagt. Dann folgt unser Blick den auslaufenden Schiffen und wir verlieren das Maß der Zeit, dämmern im Ungemessenen.
Arzt
Ich verlasse Sie jetzt, Modest Petrowitsch. zu den Krankenschwestern Und Sie passen auf, daß er nicht wieder davonläuft und als Bettler durch die Straßen zieht. Der Mann war einmal ein begabter Musiker, und ein Patriot!
Mussorgsky
Und wenn wir uns genug umgesehen haben unter all den radschlagenden Truthähnen, die da im Sonntagsstaat ihre Frauen ausführen, gehen wir zum „Kleinen Jaroslawler“ und feiern in die Geisterstunde hinein! Dann soll Champagner fließen bis zum Morgengrauen, mon ami! Dann mußt Du mir von Deinen Reisen erzählen! Frankreich, Italien, Polen! Was gäbe ich dafür, einmal die Gärten der Tuilerien zu sehen. Ich selbst kam in meiner Jugend ja nur bis Moskau. Was für eine Stadt war das gegen unser St. Petersburg! Sie versetzte mich in eine andere Welt – die Welt der Vergangenheit, eine Welt, die zwar voller Abscheulichkeiten ist, die aber doch, ich weiß nicht warum, höchst anziehend auf mich wirkt. Weißt Du was? Bis jetzt war ich Kosmopolit, aber nun geht irgendeine Verwandlung in mir vor: alles Russische wird mir nahe und vertraut. Ich glaube, ich fange ernstlich an, Rußland zu lieben.
Erste Krankenschwester
Die Armee ließ er sausen,
Zweite Krankenschwester
unser Herr Patriot.
Erste Krankenschwester
„Musiker“ wollte er werden
Zweite Krankenschwester
und konnte gerade mal Noten lesen.
Erste Krankenschwester
Geschniegelte Klimperei,
Zweite Krankenschwester
um den Damen zu imponieren.
Mussorgsky
Das schöne Geschlecht liegt uns zu Füßen, lieber Freund. Wir können alles erreichen, alles! Sollen sich unsere Mitstreiter doch in ihre bourgoisen Existenzen schicken: Cui, Borodin, Rimsky-Korsakow. Ein „mächtiges Häuflein“ habe ich sie genannt, doch wie erbärmlich flüchten sie in ihre wohlfeilen Ehen und Leibrenten! Ohne Banner, ohne Wünsche; ohne in die Ferne zu schauen und ohne es überhaupt zu versuchen, basteln sie emsig an Dingen, die längst getan sind, wonach niemand verlangt. So viel Muße möchte ich einmal für meine Oper haben! Wenn man mir bloß Urlaub geben wollte – so würde meine Feder sofort über das Notenpapier losgaloppieren. Es ist höchste Zeit. Im Kopf habe ich ja fast alles komponiert. Es gilt nur aufzuschreiben und aufzuschreiben. Aber der Dienst läßt das nicht zu. Wo doch die schöpferischen Stimmungen so schwer einzufangen sind! Launenhafter als die kapriziöseste Großkokette! Man muß sie erhaschen, indem man sich ganz und gar ihren unberechenbaren Weisungen fügt. Ein Ballett der Küken in ihren Eierschalen, das ist die Inspiration!
Erste Krankenschwester
Recht aufgeblasen und selbstgerecht
Zweite Krankenschwester
wirkt dieser eitle Gnom,
Erste Krankenschwester
wenn er noch mal in Fahrt gerät.
Zweite Krankenschwester
Er hält sich für den Größten
Erste Krankenschwester
und zieht im Zweifelsfall
Zweite Krankenschwester
doch immer gleich den Schwanz ein.
Mussorgsky
Ich gehe nicht zu Liszt. Der große Liszt! Bittet mich nach Weimar! Aber ich gehe nicht hin. Stassow würde mir die Reise bezahlen, aber ich gehe nicht hin. Meine Pflichten machen es mir unmöglich. Ich kann ja meine Vorgesetzten nicht im Stich lassen. Und meine Oper muß auch noch fertig werden. Und außerdem: Was soll ich schon bei den Deutschen? Dort findet man das beste Beispiel für musikalische Sklaverei: Verehrung der Konservatoriumsweisheit und Routine, Bier und stinkende Zigarren, Musik und Bier, stinkende Zigarren und Musik „ins Grün“. Liszt freilich, Liszt hat mit wenigen Ausnahmen nur kolossale Stoffe komponiert. Aber was weiß der schon vom Russischen? Nein, nein, ich gehe nicht hin. Du würdest ohne zu zögern aufbrechen, lieber Viktor, das weiß ich. Ich bleibe hier. Das Komponieren ist doch keine halbherzige Sache, kein loser Zeitvertreib. Gib dich der Menschheit ganz – das ist es, was die Kunst verlangt! Sie läßt mich ohne Schlaf. Wie die Stille. Wenn man das säuselnde Laub in der Dämmerung hört gleich einem Harfenglissando, wie könnte man da schlafen! Dazu der unsichtbare Mond, der sich durch das Laubwerk hindurch direkt zum Kopfende heranschleicht. So zart und lautlos.
Erste Krankenschwester
Schau an, der Säufer kriegt Besuch
Zweite Krankenschwester
von einer „Sängerin“!
Erste Krankenschwester
Sieht ziemlich abgehalftert aus
Zweite Krankenschwester
Darja Leonowa, eine „Altistin“
Erste Krankenschwester
Und mit der soll er auf Tournee gewesen sein?
Zweite Krankenschwester
In Odessa. Tja, die „reifen Damen“…
Mussorgsky
Mama? Liest Du mir wieder etwas über die Baba Yaga vor? Über die Hexe mit den Hühnerfüßen? Mit Augen aus Kohle? Und ihren wilden Ritt durch Nacht und Wind? Wie damals, als Du mir Klavierunterricht gabst. Rette Deinen armen Sohn, Mama! Laß eine Träne auf seinen kranken Kopf fallen!
Leonowa
Ich bin es, Musinka.
Mussorgsky
Ein Hauch von Liebe und Wärme geht von diesem Wort aus. Niemandem außer Ihnen, verehrte Frau Leonowa, möchte ich erlauben, mich so zu nennen. Aber wem kann ich es erlauben? Sie sind fast alle tot. Die Frauen sind mir nacheinander weggestorben.
Erste Krankenschwester
„Schwarze Wolke
Zweite Krankenschwester
Hat’s Sternlein zugedeckt,
Erste Krankenschwester
Längst im Grabe
Zweite Krankenschwester
Schläft’s tote Mägdelein.“
Mussorgsky kommt zu sich, aufgeräumt
Das stammt von mir. Das habe ich geschrieben, für meine Cousine. Da war ich … achtzehn, als sie starb. Es war mein erstes Lied.
Leonowa
Oh Musinka, Du bist ja ganz bei Dir! Du phantasierst ja nicht mehr. beiseite Herr Doktor, kommen Sie, er hat einen lichten Moment!
Arzt eilt herbei
Hören Sie mich, Modest Petrowitsch?
Mussorgsky Pause, wieder im Wahn
Schuld, Viktor, ich habe Schuld auf mich geladen.
Arzt
Es hat keinen Sinn, er ist wieder im Wahn.
Leonowa traurig
Wieder woanders.
Mussorgsky
Als Dich der Schlag traf, Viktor, war ich so hilflos. Du bist zusammengebrochen, und was tat ich? Ich stand daneben und kam dir mit abgeschmackten Gemeinplätzen, mit gemachter Kaltblütigkeit und dem ganzen üblen Schlamm der gesellschaftlichen Formen! Das ist ja das ganze Unglück, daß wir erst dann die Gefahr für einen anderen erkennen, wenn er schon am Ertrinken ist oder sich sonst zum Sterben bereitet. Ein Dummkopf ist der Mensch. Und wenn er eine sieben Spannen hohe Stirn hat, so bleibt er doch ein hoffnungsloser Dummkopf! Uns Dummköpfe trösten in solchen Fällen gewöhnlich die Weisen: „Er“ ist nicht mehr, aber was er geschaffen hat, lebt und wird leben, und es sei wenigen Menschen das Glück beschieden, nicht vergessen zu werden. Das ist wieder solch ein Schmarren! Man soll und darf sich nicht beruhigen! Es soll und darf keinen Trost geben – das ist eine morsche Moral! sehr aufgeregt Ich habe Deinen Tod verschuldet, lieber Freund, und ich, nur ich muß um Dich trauern. Die Bilder, die du maltest, sind bald zu Staub zerfallen. Ich geb Dir meine Bilder, als wärn’s die Deinen, mit Noten mal’ ich Schlösser, bau’ Dir ein goldnes Tor, durch das Du schreiten kannst nach dunkler Nacht im Reich der Katakomben. Mit den Toten in der Sprache der Toten, ein letztes Wort, eine letzte Umarmung – das ist es, was uns … stirbt
Modest Petrowitsch Mussorgsky, geb. 1839, starb am 28. März 1881 in Einsamkeit und Elend. Seit seinem neunzehntem Lebensjahr litt er fortgesetzt unter „nervösem Fieber“ und verfiel dem Alkohol. Für seine Musik erntete er gleichermaßen Lob und Spott.
Er hinterließ u.a. die Klaviersuite „Bilder einer Ausstellung“ (1874). Darin übertrug er 10 Bilder des Malers Viktor Hartmann in Klanggemälde. Er wollte seine Kunst so eng wie möglich mit dem Leben verbinden. Erst lang nach seinem Tode erkannte man seine Bedeutung.
© Thomas Kastura

Mussorgskys Sterbezimmer. Blick auf die Newa.