

Wie entstaubt man alte Meister? Man nehme einen Vertreter, der sich um das Thema des Eros in der Kunst verdient gemacht hat und konfrontiere ihn mit der Gegenwart. So ähnlich könnte das Brainstroming der Ausstellungsmacher ausgesehen haben. Botticelli ist für ein solches Vorhaben prädestiniert, da er auf die unverfrorenste Weise das gleiche Modell für seine süßen Madonnenbilder wie für seine Pinup-Girls verwendet hat, eine hocherotische Mischung aus Unschuld und Sex Sells.
Das Lieblingsmodell von Sandro Botticelli war Simonetta Vespucci, das It-Girl von Florenz in den Kreisen der Medici. Sie soll die Geliebte von Giuliano de Medici gewesen sein und auch Botticelli war ihrer Schönheit und ihrem Charme erlegen, für ihn wurde sie zur großen unerfüllten Liebe. Auch andere große Künstler der Renaissance verewigten ihre Schönheit wie z.B. Piero di Cosimo. Simonetta Vespucci starb mit nur 23 Jahren an Lungentuberkolose, Botticelli soll sich vor seinem eigenen Tod gewünscht haben, neben ihr auf dem Friedhof der Ognissanti Kirche in Florenz begraben zu werden. Was wäre aus Sandro Botticelli ohne Simonettas Ausstrahlung geworden? Wohl nur ein weiterer Madonnen-Maler der Frührenaissance, doch Simonettas Schönheit schrie förmlich danach, sie vom Madonnengewand zu befreien und mit ihr als Göttin der Liebe das streng christliche Bildprogramm des Abendlandes um mythologische Themen zu erweitern. Indem Botticelli die „Geburt der Venus” und den „Frühling” für die Medici malte, schuf er nicht nur zwei Ikonen der Renaissance, sondern eine völlig neue Bildgattung in der Kunst Europas.

Nachdem bereits die römische Architektur der Antike von den Baumeistern der Renaissance, allen voran durch Filippo Brunelleschi, wiederentdeckt und ihr Geheimnis erfolgreich in Neubauten in Florenz wie der Kuppel des Doms umgesetzt worden war, gelang Sandro Botticelli mit seinem neuen Bildprogramm das gleiche in der Malerei. Die „Geburt der Venus” stellt den ersten weiblichen Akt seit der Antike dar.
Botticelli hat die Vermessung des Menschen nicht interessiert, er wollte Projektionflächen für die Sehnsüchte des Betrachters schaffen.

Aufgrund dieses Coups verzeihen wir Botticelli gerne seine malerischen Unzulänglichkeiten; seine Probleme mit der korrekten Darstellung der Anatomie, vor allem bei Händen und Füßen. Er war kein Leonardo da Vinci und auch kein Raffael, die hierin neue Maßstäbe setzten. Botticelli scheint bei der Figurendarstellung immer noch der gotischen Übertreibung und Reduktion der Anatomie verhaftet gewesen zu sein und zugleich schon auf den künftigen Manierismus hinauszuweisen, der die Renaissance in der Übergangszeit zum Barock eines Tages ablösen sollte. El Greco mit seinen in die Länge gezogenen Figuren könnte in diesem Punkt von Botticelli inspiriert worden sein, doch lebte er etwa 100 Jahre später. Botticelli hat die Vermessung des Menschen, die Leonardo da Vinci für alle Zeiten gültig festgeschrieben hat, einfach übersprungen.
Dennoch gehören seine Bilder zu den Highlights der Renaissance, denn durch die künstlerischen Freiheiten, die sich Botticelli nahm, und dank Simonetta Vespuccis Ausstrahlung, besitzen sie etwas, was vielen anderen Werken der Renaissance fehlt. Es ist der Kontrast aus unerreichbarer Schönheit und menschlicher Imperfektion, der seine Bilder so sehr mit Spannung auflädt und sie zugleich dem Normalmaß des Durchschnittssterblichen wieder näherbringt. Dadurch werden sie zur idealen Projektionsfläche für die Sehnsüchte des Betrachters auf der Suche nach dem eigenen Schönheitsideal. Der Schmelz und die strahlenden Farben von Botticellis Tempera-Technik lassen auch die Flächigkeit und die harten zeichnerischen Umrißlinien, mit denen er seine Figuren anlegt, in den Hintergrund treten. Die Betonung der Umrißlinie macht Botticelli auch zu einem direkten Vorläufer der Pop-Art, seine Verwendung von Linie und Flächigkeit war für Andy Warhol ein gefundenes Fressen, wie es die Ausstellung eindrucksvoll demonstriert.

Den Präraffaeliten mit ihrem klassizistischen Schönheitsideal ist die Wiederentdeckung von Sandro Botticelli zu verdanken.
Die Schau versucht, den Bogen von Botticelli in die Gegenwart zu schlagen, indem drei verschiedene Ausstellungskomplexe miteinander verbunden werden: die Gegenwartskunst, Botticellis Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert und seine eigenen Originalwerke. Obwohl nur ein Nebenaspekt der Ausstellung, ist es dennoch deren Hauptverdienst, sichtbar zu machen, wie sich die Rezeption von Botticellis Werk für die Gegenwartskunst vollzogen hat. Denn Botticelli war mehrere Jahrhunderte hinweg in Vergessenheit geraten und wurde erst im 19. Jahrhundert durch die Präraffaeliten in England wiederentdeckt. Ein Paradoxon der Geschichte ist es, daß Botticellis Wiederentdecker als Präraffaeliten in die Kunstgeschichte eingehen sollten, während zugleich die Deutsch-Römer Raffael Botticelli vorzogen.
John Ruskin entdeckte bei seinem Rom-Aufenthalt 1874 Fresken von Botticelli und fertigte Kopien davon an. Seitdem wurde Rom zum Sehnsuchtsort der englischen Künstlerkolonie, Botticellis Schönheitsideal paßte perfekt zum Spätklassizismus der Präraffaeliten Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie waren auch die einzige Künstlergruppe in Europa, die es schafften, Botticellis Erbe in eine eigene Ästhetik zu transformieren. Die grazilen Frauenfiguren von Dante Gabriel Rossetti oder John Everett Millais atmen immer noch Simonetta Vespuccis Ausstrahlung und weisen zugleich schon auf den sich ankündigenden Jugendstil hin.

Das Dilemma der Ausstellung wird sichtbar, daß dieser Brückenschlag nur mit einem Trick funktionieren konnte. Die wenigen erstklassigen Werke aus der Epoche der Präraffaeliten geben in ihrer Summe nicht genügend Substanz dar, um damit einen ganzen Saal bespielen zu können. Deshalb mußten auch viele Werke aus der zweiten Liga des 19. Jahrhunderts herhalten, um die Wände zu füllen. Obwohl diese zugleich erhellend sind für die damalige Botticelli-Rezeption, können sie nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie über das bloße Zitat nicht hinauskommen. Ingres „Quelle” aus dem Musée d’Orsay ist ein deutlicher Beleg dafür, daß die Ausstellung in diesem Punkt scheitert. Obwohl das Bild schon vor der Wiederentdeckung Botticellis durch die Präraffaeliten gemalt wurde, reiht sich Ingres in die Liste prominenter Künstler ein, die sich auf Botticelli berufen sollen. Doch die bloße erotische Aktdarstellung alleine reicht noch nicht aus, um eine Verbindung zu Botticelli herzustellen. Es zeigt vielmehr, daß das Prinzip „Sex Sells” über die Jahrhunderte schon immer funktioniert hat und immer dann konsequent angewendet wurde, wenn es säkulare aufgeklärte Gesellschaften zugelassen haben.
Buntheit gegen handwerkliche Raffinesse – der aussichtslose Kampf der Gegenwartskunst.
Desweiteren finden sich Zitate von Magritte und Dali, die Botticellis Ikonen dankbar aufgreifen, aber in einen völlig anderen Kontext stellen. Auch die Mode hat sich von Botticellis floralen Gewanddarstellungen aus dem „Frühling” inspirieren lassen, wie z.B. Elsa Schiaparellis Kleidentwürfe belegen sollen. Doch auch hier wirkt die Verbindung zu Botticelli etwas bemüht, sind florale Muster doch ein ewig wiederkehrendes Motiv in der Mode.

Am deutlichsten wird das Scheitern der Ausstellung jedoch in der Abteilung der Gegenwartskunst, zu banal und zu oberflächlich sind hier die Zitate aus Botticellis Bilderschatz. Gleichzeitig zeigt dies aber auch, wie weit sich die Gegenwartskunst inzwischen von einer komplexen, ganzheitlichen Ästhetik wie der Renaissance entfernt hat. Es wird zitiert, zerlegt, collagiert und mit grellen Farben aufgepeppt, wie z.B. David LaChapelles kitschig-bunte Nachstellung der „Geburt der Venus”. Der Konkurrenzdruck im Ringen um Aufmerksamkeit ist groß, deshalb findet hier das Prinzip „Sex Sells” seine unverblümteste Anwendung. Das Scheitern der Ausstellung offenbart zugleich das Dilemma der ganzen Gegenwartskunst, das historische Erbe der Renaissance ist übermächtig und es ist unmöglich, allein mit handwerklichen Mitteln dagegen zu bestehen. Aus dieser unterlegenen Situation heraus entsteht der Zwang, das Zitieren zur Kunst zu erheben und damit die noch wenigen Nischen zu besetzen, die der Kunstmarkt übrig gelassen hat.
Nach all der Buntheit mit seinen Platitüden atmet man als Besucher förmlich auf, wenn man den Botticelli-Raum mit den Originalen betritt. Die Ausgewogenheit von Form und Farbe, die universelle Ganzheitlichkeit des humanistischen Weltbilds der Renaissance, die handwerkliche Raffinesse entschädigen für die ernüchternde Qualität der Gegenwartskunst.
Das Memento Mori der Ausstellung jedoch bildet ein monumentaler Bilderrahmen von Karl Friedrich Schinkel, denn der Rahmen ist leer. Entworfen wurde er von Schinkel für Botticellis Gemälde „Maria mit dem Kind und Leuchter tragende Engel”, im letzten Kriegsjahr 1945 ist es im scheinbar sicheren Flakbunker Friedrichshain zusammen mit 434 dort eingelagerten großformatigen Bildern der Berliner Gemäldegalerie verbrannt. Die schweren Kriegsverluste zeigen, daß auch Kunst nicht unsterblich ist, genauso wie die Vergänglichkeit der Schönheit. Simonetta Vespucci wurde nur 23 Jahre alt.
24.09. – 24.01.2016 Gemäldegalerie Berlin
