

Ausgehend von Giorgio de Chiricos Bild „Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik”, das sich im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart befindet, zeigt diese in Zusammenarbeit mit der Stadt Ferrara, wo das Gemälde vor 100 Jahren entstand, eine umfassende Schau, die de Chiricos Einfluß auf die europäische Avantgarde beleuchtet.
Dabei beschränkt sich die Ausstellung auf de Chiricos Werkphase bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, unter Verzicht auf sein umstrittenes Spätwerk, und untersucht ihre Bedeutung für die Entwicklung von Dadaismus, Surrealismus und Neuer Sachlichkeit. So unterschiedliche Künstler wie Max Ernst, Salvador Dalí, René Magritte, Oskar Schlemmer, George Grosz und Kurt Schwitters gerieten in den Bann der Pittura Metafisica und adaptierten diese in ihren jeweils eigenen Stilrichtungen.

Giorgio de Chirico wurde 1888 in Griechenland geboren, wo er aufwuchs und neben einer Ausbildung zum Ingenieur parallel Malerei an der Hochschule der bildenden Künste in Athen studierte. Seine Verbundenheit mit der mythologischen Gedankenwelt der Antike und dem Lebensgefühl des Mittelmeerraums wurde bereits hier geprägt. Die für sein künstlerisches Schaffen entscheidenden Impulse erhielt er jedoch in München, wo er von 1906 – 1909 an der Königlichen Akademie der Künste zum Studium der Malerei eingeschrieben war. Die neoklassizistische Architektur der bayerischen Metropole, vor allem die Arkaden des Hofgartens sollten in seinem späteren Werk immer wiederkehren, de Chiricos Aufenthalt in München war die Inkubationszeit für seine metaphysischen Bilder, die später in Ferrara entstehen und die Kunst der Avantgarde revolutionieren sollten. In München stößt de Chirico in der Schack Galerie auch auf das Werk von Arnold Böcklin, das ihn gefangen nimmt und sein Leben lang nicht mehr losläßt. Die melancholische Grundstimmung in Böcklins Werk schreibt de Chirico ins Industriezeitalter des 20. Jahrhunderts fort.
Vor allem Böcklins verloren wirkende mit Schleiern verhüllte Figuren wie z.B. in den Bildern „Villa am Meer” oder „Die Toteninsel” werden auf de Chiricos leeren italienischen Plätze wieder auftauchen. Sie bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Animiertheit und Erstarrung, bis sie schließlich selbst zu einem der Standbilder mutieren, mit denen sie scheinbar kommunizieren. Das philosophische Fundament für seine Bilder liefern die Schriften von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, dessen Beschreibung von mit Arkaden umsäumten gespenstisch leeren Plätzen in Turin de Chirico die literarische Vorlage geben. In seiner Biographie verlegt de Chirico sein eigenes metaphysisches Erweckungserlebnis nach Florenz auf die Piazza Santa Croce, wo ihn im Oktober 1909 an einem klaren Herbstnachmittag angesichts des Dante-Denkmals eine Vision heimsucht. „Da hatte ich den befremdlichen Eindruck, ich sähe jene Dinge zum ersten Mal.”

Giorgio de Chirico war der erste, dem es gelang, in seiner Kunst den inneren Bruch des modernen Menschen zum Ausdruck zu bringen.
1911 begibt sich Giorgio de Chirico nach Paris und trifft dort mit den führenden Vertretern der europäischen Avantgarde zusammen. Während Pablo Picasso im Kubismus den äußeren Bruch des menschlichen Individuums mit der Realität zum zentralen Thema seiner Arbeit macht, visualisiert de Chirico dessen inneren Bruch und wird so zum Gegenpol zu Picasso. Im psychoanalytischen Ansatz des Surrealismus sollte dieser Gegensatz zu den konstruktivistischen Strömungen innerhalb der Avantgarde noch deutlicher zum Tragen kommen. Guillaume Apollinaire wird dabei für de Chirico und die Surrealisten zum Stichwortgeber und geistigen Mentor.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs läßt sich de Chirico 1915 im oberitalienischen Ferrara nieder, um dort seinen Militärdienst abzuleisten, im Gegensatz zu vielen seiner Freunde aus Paris bleibt ihm der Dienst an der Front erspart. In Ferrara trifft er zusammen mit seinem Bruder Alberto Savinio auf Carlo Carrà, mit denen er die theoretischen Grundlagen der Scuola Metafisica begründet. Auch Giorgio Morandi stößt bald zu der Künstlergruppe hinzu und erprobt die metaphysischen Prinzipien an seinem Werk. Die Architektur Ferraras übt großen Einfluß auf das Werk von de Chirico aus, das Castello Estense der Familie d’Este, unter der Ferrara in der Renaissancezeit seine glanzvolle Blüte erlebte, taucht auf zahlreichen seiner Bilder als architektonische Kulisse, unter anderem in den „Beunruhigenden Musen” auf.

Auf der Höhe seiner Kunst wendet sich de Chirico von der Pittura Metafisica ab, um sich in der antiken Mythologie neu zu erfinden.
Durch die Kunstzeitschrift „Valori Plastici” werden viele von de Chiricos Werken in den europäischen Kunstzentren bekannt und begründen seinen Ruhm als pessimistischer Erneuerer einer ganzen Epoche. In der kurzen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs erreicht de Chiricos Schaffens- und Innovationskraft schwindelerregende Höhen, wie im Fieberwahn produziert er seine bedeutendsten Werke, deren visionäre Strahlkraft er nie wieder erreichen sollte.
Verzweifelt versucht er sich in den 1920er Jahren neu zu erfinden, indem er sich der Antike und der Mythologie zuwendet, doch seine Surrealistenfreunde um André Breton wenden sich enttäuscht von seiner neuen Stilrichtung ab. Die Beschänkung auf die Präsentation des Werkes bis zum Ende des Ersten Weltkriegs erweist sich als schlüssiges Ausstellungskonzept, das die Bilder von de Chirico und die seiner unmittelbaren Wegbegleiter Carrà und Morandi mit den Werken des Dadaismus, des Surrealismus und der Neuen Sachlichkeit konfrontiert. Die Hauptvertreter des Surrealismus sind mit Max Ernst, Salvador Dalí, Man Ray und René Magritte vertreten. Nur ein Protagonist der surrealistischen Bewegung ist bei den Ausstellungsmachern leider durchs Raster gefallen: Yves Tanguy. Obwohl gerade dieser erst durch die schicksalhafte Entdeckung des Bildes „Das Gehirn des Kindes” von Giorgio de Chirico zur Malerei fand und in seinem späteren Werk die Prinzipien der Scuola Metafisica mit seinen anthropomorphen Dingkonglomeraten fortführte und so die Geschichte der metaphysischen Malerei um eine weitere richtungsweisende Facette bereicherte.

Für die Surrealisten schuf de Chirico die Bühne, auf der sie ihre Träume inszenieren konnten, um ins eigene Unterbewußtsein vorzudringen.
Charakteristisch für die Kunst des Surrealismus ist das Bestreben, den Widerspruch zwischen Realität und Irrealität, zwischen Logik und Unterbewußtsein aufzuheben und in einer übergeordneten Surrealität miteinander zu versöhnen. Einige Künstler der surrealistischen Bewegung versuchten, die verschütteten Bilder des Unterbewußtseins durch automatische Techniken zu Tage zu fördern, während andere gezielt Traumbilder einsetzten.
Indem de Chirico Innen- und Außenwelt auf metyphysische Weise miteinander verschmolz und so das Unbewußte, das der Logik des Verstands widersprechende Wesen der Dinge offenbarte, wurde er für die Surrealisten zur Lichtgestalt, die ihnen das Tor zum Unterbewußtsein öffnete. In Max Ernsts Gemälde „Das Rendesvouz der Freunde” wird de Chirico im Kreis der Surrealisten deshalb als marmornes Denkmal dargestellt. De Chirico entwickelte für seine metaphysische Bildsprache ein fest umrissenes Vokabular, das auf allen seinen Gemälden dieser Schaffensphase wiederkehrt und ihnen ihre magische Aura verleiht. Vor dem Betrachter baut sich ein unauflösliches Spannungsfeld aus Vertrautheit und Befremdung, sowie Ruhe und Beunruhigung auf, während multiple Raumbühnen die Gesetze der perspektivisch korrekten Raumillusion infrage stellen.

Auf einem schmalen Grat laufen die dargestellten Dinge stets Gefahr, in ihr Gegenteil zu kippen. Und wie hinter einem Vorhang bleibt dem Betrachter verborgen, wer oder was die Fäden in der Hand hält, durch die die Manichinos wie Marionetten bewegt werden. Ein unsichtbarer Demiurg scheint den Betrachter ins Reich der eigenen Träume zu dirigieren. Die Bühne ist die bahnbrechende Bilderfindung von Giorgio de Chirico, auf der er sein absurdes Welttheater inszeniert. Die Fluchtlinien seiner Bildräume erzeugen ein Chaos, das die Welt in tektonische Geheimnisse auflöst und den Betrachter in einem perspektivischen Labyrinth wie in einem Tesserakt gefangen zurückläßt. War es beim Kubismus der Körper, der in seine Bestandteile zerfiel, ist es bei der Pittura Metafisica der ihn umgebende Raum. Nichts ist mehr so wie es scheint, die Logik und die Regeln der Mathematik sind außer Kraft gesetzt. Die verstreuten geometrischen Gerätschaften stellen ein letztes Aufbäumen des Verstandes, einen verzweifelten Hilferuf an die Rationalität dar, doch sie funktionieren nicht mehr wie sinnentleerte Zeichen einer untergegangenen Zivilisation.
Verdrängte Kindheitserinnerungen werden in den rätselhaften Stillleben der Pittura Metafisica wieder lebendig.
Rätselhafte aus ihrem Kontext gerissene Gegenstände gehen neue Verbindungen ein und entfalten im Zwielicht ein spukhaftes Eigenleben. Man glaubt, all diese belanglosen ausrangierten Dinge als Kind auf irgendeinem Dachboden schon einmal gesehen zu haben. De Chiricos Genialität liegt darin, daß er es schafft, im Unterbewußtsein archetypische, längst vergessene oder verdrängte Kindheitserinnerungen anzusprechen und wieder ans Licht zu bringen: die Erfahrung von Dunkelheit in unbekannten Räumen, angefüllt mit magischen Gegenständen, die zugleich Imagination, Faszination und Angst auslösen. Diese beziehungslosen Dinge sind im gemeinsamen Schweigen miteinander verbunden, trotz ihrer Isoliertheit sind sie alle im gleichen Raum gefangen und eröffnen dem Begriff des Stilllebens eine völlig neue Dimension. De Chirico erschuf als erster die Traumbühne, den Seziertisch, auf dem die Surrealisten die Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms stattfinden lassen konnten.
Ausgehend von den Errungenschaften der Renaissance, Architektur und deren korrekte Wiedergabe in der Zentralperspektive als Trompe-l’oeuil zu verwenden, bedient sich de Chirico gezielt bestimmter Architekturelemente, um seine Raumbühnen zu gestalten. Seine einsamen Piazze d’Italia verweisen direkt auf die „Ideale Stadt” von Piero della Francesca oder die Rotunde in Peruginos Bild „Die Hochzeit der Jungfrau Maria”. De Chiricos bevorzugtes Motiv sind die Arkaden, inspiriert durch seine Aufenthalte in München und Turin, die die Plätze umsäumen und eine Trennung zwischen innen und außen herstellen. Schwarze Schatten fallen aus blinden Kulissen, Potemkinschen Dörfern, die wie Erinnerungen an die angehaltene Zeit den Rahmen für seine Geisterstädte bilden, in der Schärfe ihrer Konturen zum Greifen nah, doch unbegreiflich. Fenster wie schwarze Löcher multiplizieren die Raumebenen, während geheimnisvolles Licht da ausströmt, wo es eigentlich nicht sein kann, und dadurch die verstörende Grundstimmung verstärkt.

Wie ein Seismograph reagiert de Chirico auf die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs und erschafft Metaphern für die Vorboten des Industriezeitalters.
Vor hohen Horizonten bilden Denkmäler, Wehrtürme und Fabrikschlote ein Raumkoordinatensystem, das die achtlos liegengelassenen Gerätschaften in einen neuen Kontext stellt. Nachdem die Fortschrittseuphorie des beginnenden 20. Jahrhunderts in der Apokalypse des Ersten Weltkriegs geendet hatte, legt sich Stille über die Welt. De Chirico bringt die Sehnsucht des Menschen zum Ausdruck, sich in den Kokon seiner eigenen Innenwelt zurückzuziehen, und die Raserei der technisierten anonymisierten Welt, die für das menschliche Individuum zu komplex und unüberschaubar geworden ist, auszusperren.
Die Vorboten des neuen Zeitalters, das den Menschen verändern wird, sind hinter dem Horizont zu erkennen, meist durch Mauern oder Draperien verdeckt. Die Silhouetten von Eisenbahnen und Schiffssegeln tauchen wie Fata Morganas hinter den architektonischen Einfriedungen auf. Sie symbolisieren Ankunft und Aufbruch, genau wie die Schiffe von Caspar David Friedrich. Doch die Dampfwolken der Eisenbahnen, eine Anspielung auf de Chiricos Vater, den Eisenbahningenieur, und die wehenden Fahnen auf den Türmen am Horizont sind nur eine Illusion. In Wirklichkeit steht die Zeit still, lange Schatten schwärzen das Pflaster wie die Zeiger einer Sonnenuhr, deren Stern zu erlöschen begonnen hat und der die geräumten Städte unter einem grünlichen Himmel in ein Dämmerstadium zwischen Tag und Nacht, Leben und Tod versetzt.
Die Angst vor leeren Plätzen und geschlossenen Räumen ist in den metaphysischen Bildern spürbar, während die Manichinos den Verlust der menschlichen Individualität zum Ausdruck bringen.
Die Leere der Piazze d’Italia zeugt von einer akuten Agoraphobie, die in de Chiricos metaphysischen Interieurs einer beklemmenden Klaustrophobie weicht, bedingt durch die räumlich beengten Verhältnisse in seinem Atelier in Ferrara, die ihn dazu zwangen, die Formate seiner Bilder zu reduzieren. In hermetischen Räumen erzeugen Konglomerate von diagonal verschobenen Wänden ein labyrinthartiges Raumgefüge, in dem Fensterausschnitte den Blick auf eine irreale Außenwelt freigeben. Rätselhafte Artefakte sind darin gefangen und türmen sich zu sinnlosen fragilen Gebilden. Meist sind es Dinge, die einmal in menschlichem Gebrauch waren oder ein Abbild der menschlichen Physiognomie darstellen, wie z.B. Büsten, Handschuhe, Winkelmaße und Backwerk. Scheinbar wahllos zusammengewürfelt weisen sie auf die Abwesenheit des Menschen hin.

Der Mensch draußen auf dem Platz, anfangs noch an die verloren wirkenden Figuren Böcklins erinnernd, ist längst mit seinem eigenen Schlagschatten verschmolzen oder zur Statue erstarrt in einem Zwischenzustand zwischen Leben und Tod. Alles Menschliche ist von seinem Antlitz gewichen, teilnahmslos fügt er sich in sein Schicksal, das er mit den anderen leblosen Gegenständen teilt. Mit der Erfindung des Manichinos, einer gesichtslosen Schneiderpuppe und ein Zwitterwesen zwischen entseeltem Menschen und beseeltem Roboter, drückt de Chirico sein Unbehagen über den Verlust der menschlichen Individualität aus. Der menschenähnliche Automat war ein beliebtes Motiv des Schauerromans aus dem 19. Jahrhundert gewesen, de Chirico transformiert ihn zum Manichino und nimmt damit bereits die Maschinenwelt aus Fritz Langs Film „Metropolis” vorweg.
Nach der Begegnung mit Giorgio de Chirico gibt Carlo Carrà den Futurismus auf und setzt auf Entschleunigung.
Den Menschen nur noch als austauschbare Produktionskraft und als Kanonenfutter für die Durchsetzung von Machtansprüchen zu sehen, war die Schattenseite der Technikbegeisterung, die vor dem Ersten Weltkrieg um sich griff und später dem Faschismus den Weg bereiten sollte. Aus dem blinden Fortschrittsglauben heraus entwickelte sich der Futurismus, dem wie viele andere Künstler auch Carlo Carrà erlegen war. Doch durch die Wirren des Ersten Weltkriegs findet auch bei ihm ein Umdenken statt, seine Begegnung mit de Chirico veranlaßt ihn dazu, dem Futurismus abzuschwören und an der Formulierung der Prinzipien der Scuola Metafisica mitzuwirken. Dem Geschwindigkeitswahn seiner Zeit setzt er eine bewußte Entschleunigung entgegen. Er benutzt ein ähnliches Bildvokabular wie de Chirico, wandelt dieses jedoch leicht ab. Seine Variante des Manichinos ist häufig eine Figur mit Tennisschläger, die wie eine ironische Anspielung auf die Verheißungen des futuristischen Bewegungskults wirkt. Die irisierende Lichtwirkung in de Chiricos Bildern dämpft Carrà mit einem Kolorik, das Erdtöne bevorzugt.

Giorgio Morandi, der bald zur Gruppe um de Chirico und Carrà hinzustößt, konzentriert sich auf das Stillleben als bevorzugtes Genre. In farblich reduzierten, fast monochromen, Ruhe ausstrahlenden Bildern untersucht er die Wechselwirkung von Linie und Plastizität anhand geometrisch abstrakter Grundkörper, die er in klassischer Manier arrangiert.
Max Ernst und René Magritte ändern ihren Stil fundamental nach der Entdeckung von de Chiricos Werken in der Kunstzeitschrift „Valori Plastici”.

Durch die Zeitschrift „Valori Plastici” fand die Pittura Metafisica schnell Verbreitung in den Kunstmetropolen von Frankreich und Deutschland. In der Münchener Buchhandlung Goltz stieß Max Ernst 1919 auf ein Exemplar der Zeitschrift und war von den abgebildeten Werken de Chiricos tief beeindruckt. Noch mitten in seiner dadaistischen Phase war de Chirico für Max Ernst die Inspirationsquelle, nach der er gesucht hatte, um seinen proto-surrealistischen Visionen eine neue Richtung zu geben. In der Grafikfolge FIAT MODES pereat ars, ein dadaistisches Wortspiel, huldigt er dem großen Vorbild de Chirico. In seinem Gemälde „Aquis submersus”, eines der ersten aus seiner surrealistischen Periode, zitiert er die typischen Attribute der Pittura Metafisica und interpretiert sie zugleich neu: den hohen Horizont, die Bühne mit Architekturelementen als Begrenzung, die durch ein Schwimmbecken ersetzt wird, Symbol für das Eintauchen ins eigene Unterbewußtsein, und die manichinohafte Figur im Vordergrund.
1923 wird René Magritte durch eine Abbildung des Gemäldes „Das Lied der Liebe” auf de Chirico aufmerksam, was auch in seinem Werk zu einem tiefgreifenden Wandel führt. De Chiricos Sujet des Bild-im-Bildes, das ein Fenster in eine nicht reale Außenwelt darstellt, entwickelt Magritte weiter zu einem visuellen Vexierspiel mit gemalter Realität und Illusion. Gewohnte Sehweisen des Betrachters werden auf dem doppelten Boden seiner philosophisch absurd anmutenden Bildräume in die Irre geführt, wie in dem Bild „Das Attentat”. Auch Salvador Dalí verwendet das Bild-im-Bild Sujet in seinem Gemälde „Erleuchtete Lüste”, das den Beginn seiner heroischen surrealistischen Periode markiert. Dalí verlegt die verlassenen Plätze de Chiricos in seine Heimat Katalonien, die weite Ebene des Empordà, die als Kulisse für seine obsessiven Traumbilder dient.


Ein wichtiges Motiv in de Chiricos Bildvokabular ist das nach innen gerichtige Auge als Symbol für das eigene Unterbewußtsein. Aus dieser Sicht kommt dem Fehlen der Augen bei seinen gesichtslosen Manichinos eine noch tiefere vielschichtige Bedeutung zu. Die an der psychoanalytischen Ergründung des eigenen Ichs interessierten Surrealisten nahmen das Augenmotiv dankbar auf. Man Ray, der den Blick auf das Unbewußte durch das Kameraauge revolutionierte, montierte die Fotografie eines Auges auf ein Metronom, um das Gefühl zu erzeugen, während des Malvorgangs beobachtet zu werden. Die Bewegung des Auges versetzte Man Ray in eine tranceartige Stimmung und bestimmte die Geschwindigkeit, mit der er den Pinsel über die Leinwand führte. Indem das Auge den Takt vorgab, wurde die Ratio ausgeschaltet und ein automatischer kreativer Prozeß im Sinne des Surrealismus ausgelöst.
In Deutschland nutzen die Künstler der Neuen Sachlichkeit das metaphysische Bildvokabular, um ihre sozialkritischen Botschaften auszudrücken.
Im Gegensatz zur französischen Avantgarde, wo sich in Paris unter André Breton die Surrealistengruppe formierte, standen die Künstler in Deutschland noch stark unter dem Einfluß des Dadaismus. Nach den traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs kämpften sie um Normalität, die Tendenzen zur Abstraktion und Zersplitterung aus der Vorkriegszeit wurden abgelöst von einer stärkeren Orientierung an der gegenständlichen Wirklichkeit. Die grellen Farben des Expressionismus wichen gedämpften Tönen und einer nüchternen Betonung der Umrißlinie.

Kurt Schwitters nimmt de Chiricos kulissenhafte Raumkonstruktionen als Vorlage für seinen „Merzbau”, eine begehbare Plastik, während George Grosz als satirischer Gesellschaftskritiker der Weimarer Republik die Motive der Pittura Metafisica als sozialkritische Metaphern benutzt. Die Künstler der Neuen Sachlichkeit bevorzugen generell eher einen sozialkritischen Realismus als die tiefenpsychologische Verrätselung der Bildinhalte, weshalb sie innerhalb der Scuola Metafisica mehr von Carrà und Morandi als von de Chirico beeinflußt werden. Während in die Schaufenster der 1920er Jahre die Schneiderpuppen der Modemacher und die Holzköpfe der Hutmacher einziehen, werden die Straßen Berlins von verstümmelten Kriegsversehrten mit fehlenden Gliedmaßen bevölkert.
Sowohl George Grosz als auch Gottfried Brockmann, Rudolf Schlichter, Anton Räderscheidt und Niklaus Stoecklin verwenden die Manichinos der Scuola Metafisica, um sie im sozialkritischen Kontext der Neuen Sachlichkeit weiterzuentwickeln und die Entmenschlichung des Individuums zu thematisieren. Die der Renaissance entliehenen Architekturelemente de Chiricos weichen der Tristesse von Hochhausfassaden explodierender Großstädte. Alexander Kanoldt inszeniert klinisch kühle Stillleben mit hart konturierten Gegenständen, die den neuen Geist der Klarheit und Reinheit zum Ausdruck bringen sollen, eine gefährliche Geisteshaltung, die bald in den Rassenwahn der Nationalsozialisten umschlagen sollte.
Die Einheit von Mensch und Architektur ist die zentrale Aussage von Oskar Schlemmers sozialer Utopie, die er am Bauhaus formuliert.
Während viele Vertreter der Neuen Sachlichkeit die Lebensumstände ihrer Zeit anprangern, ist Oskar Schlemmer daran interessiert, dem Phänomen der anynomen Massengesellschaft durch die Abstraktion der menschlichen Physiognomie ein Gesicht zu geben. Deutschland konnte auf eine lange Tradition als Brutstätte von sozialen Utopien und damit einhergehenden Sozialexperimenten zurückblicken. In der Typisierung des Menschen, hier wiederum auf die Proportionslehre Leonardo da Vincis zurückgreifend, versucht Oskar Schlemmer am Bauhaus in Weimar, den Typus des modernen Menschen zu entwerfen. In seinem Bild „Ruheraum” ist er bestrebt, die harmonische Einheit von Mensch und Architektur als Ausdruck des Schöpfertums im humanistischen Sinne darzustellen. Auch wenn das Hauptwerk von Giorgio de Chirico innerhalb nur eines Jahrzehnts entstand, hatte es einen fundamentalen Einfluß auf die sich aufsplitternden Kunstrichtungen im Europa während und nach dem Ersten Weltkrieg. Seine Gemälde bleiben ein Faszinosum und haben auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Wie „Der Große Metaphysiker” häuft der Mensch immer größere Berge von Wissen an und versteht zugleich immer weniger, was er damit anfangen soll und warum er seine selbst erschaffenen metrischen Gerätschaften überhaupt benutzt. In einer Zeit, die im Begriff ist, die letzten Geheimnisse der Welt ins grelle Scheinwerferlicht zu zerren und auf dem Altar des Profitstrebens zu opfern, in der die Kunst sich der Unterhaltungsindustrie anzudienen versucht, sehnt man sich nach spiritueller Verrätselung, nach dem logisch nicht Erklärbaren. Während die Bilder der Gegenwart im Streaming der digitalen Bilderflut untergehen, bleiben die schwarzen Schatten von Giorgio de Chirico wie die Zeiger einer zum Stillstand gebrachten Uhr bestehen.
18.03. – 03.07.2016 Staatsgalerie Stuttgart