Mit Tuschepigmenten läßt Thomas Michel surreale Welten entstehen, die nicht größer als ein Diapositiv sind.

Thomas Michel, Genesis Nr. 106, Hydrographie
Eine der größten Errungenschaften des Surrealismus war die Erfindung der Écriture automatique. André Breton, der Vordenker der surrealistischen Bewegung, hat den Begriff der Écriture automatique als „Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft” geprägt, als Akt des unzensierten Schreibens, bei dem die Ratio völlig ausgeschaltet wird.
Um sich wie vom Surrealismus gefordert in diesen Zustand der geistigen Befreiung zu versetzen, empfiehlt André Breton, sich nach dem Aufwachen noch im Halbschlaf sofort an den Schreibtisch zu setzen und die im tranceartigen Dämmerzustand aufsteigenden Sätze sofort aufzuschreiben, „unbewusst” oder „an der Schwelle des Traums”. Breton schreibt, er habe sich dieser Technik gezielt bedient, nachdem er einmal beim Einschlafen visuelle und akustische Erscheinungen gehabt habe:
„Ganz beschäftigt mit Freud, wie ich es damals noch war, und vertraut mit seinen Untersuchungsmethoden, die ich während des Krieges gelegentlich bei Kranken hatte anwenden können, beschloß ich, von mir selbst zu erlangen, was man von ihnen zu erhalten sucht: nämlich einen so schnell wie möglich fließenden Monolog, über den der kritische Verstand des Subjekts kein Urteil fällt, der sich infolgedessen keinerlei Verschweigung auferlegt und genauso wie gesprochenes Denken ist.” – André Breton
Das erste literarische Werk des Surrealismus, das 1919 durch die Methode der Écriture automatique entstanden ist, war „Les Champs magnétiques” (Die magnetischen Felder), das gemeinsam von André Breton und Philippe Soupault verfaßt worden ist. „Les Champs magnétiques” war ein Meilenstein in der Entwicklung des Surrealismus und begündete die Karriere von André Breton als Kopf der Surrealistengruppe. Bretons weiteres literarisches Schaffen wurde durch die Methode stark geprägt. Er wendete die Écriture automatique sowohl in Gedichten wie „Clair de Terre” (Erdschein) von 1923 oder „Le revolver a cheveux blancs” (Der weißhaarige Revolver) von 1932 als auch in Prosatexten wie in „Poisson soluble” (Löslicher Fisch), einem Bestandteil des Ersten Surrealistischen Manifests aus dem Jahr 1924 an. Im Roman „Nadja”, der 1928 entstand, verband er dieses Verfahren mit einem eher assoziativen Beschreiben realer Erlebnisse.
Der Surrealismus erweiterte die Palette der Kreativitätstechniken in der Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts.
Die bildenden Künstler der Surrealisten entwickelten eigene Methoden, um unbewußte Bilder unter Umgehung der kritischen Vernunft zu evozieren und auf die Leinwand zu bannen. Allen voran ist es Max Ernst zu verdanken, der die Palette der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten um einige kreative Techniken erweiterte, daß die Écriture automatique den Grundstein für den späteren Siegeszugs des Surrealismus in der Kunstgeschichte legte. Das Werk von Max Ernst ist geprägt von den künstlerischen Verfahren der Frottage, Grattage und der Collage, die das bildnerische Pendant zum automatischen Schreiben darstellen. Oscar Dominguez entwickelte das Abklatschverfahren, auch Décalcomanie genannt, Wolfgang Paalen die Fumage, bei der Kerzenruß eine graphische Spur auf dem Bildträger hinterläßt.
Der bekannteste Vertreter des Surrealismus schließlich, Salvador Dali, begründete die paranoisch-kritische Methode, um Wahnbilder aus dem Unterbewußtsein heraufzubeschwören. Die zentrale Aussage aus seinem Essay „Die Eroberung des Irrationalen” von 1935 lautet: „Paranoisch-kritische Aktivität: Spontane Methode irrationaler Erkenntnis, die auf der kritisch interpretierenden Assoziation wahnhafter Phänomene beruht. Das Vorhandensein aktiver, systematischer, für Paranoia typische Elemente garantiert den entwicklungsfähigen, schöpferischen, für die paranoisch-kritische Aktivität typischen Charakter. Das Vorhandensein aktiver, systematischer Elemente setzt weder willentlich gelenktes Denken noch einen irgendwie gearteten intellektuellen Kompromiß voraus, denn bekanntlich gehört bei der Paranoia, die aktive, systematische Struktur zum wahnhaften Phänomen selbst – jedes wahnhafte Phänomen paranoischen Charakters, selbst das augenblickliche, plötzliche, schließt bereits „in Gänze” die systematische Struktur ein und objektiviert sich erst a posteriori durch Einschalten der Kritik.”

Thomas Michel, Hydrographie, virtuelle Lichtinstallation, Kloster Michaelsberg Bamberg
Hydrographie ist nichts anderes als der spannende Moment, Farbe beim Trocknen zuzusehen.

Thomas Michel, Genesis Nr. 69, Hydrographie
Dem Geist des Surrealismus und seinen Methoden zur Erforschung des Unterbewusstseins verpflichtet, stieß Thomas Michel beim Experimentieren mit Tusche auf verschiedenen Bildträgern auf eine Technik, die keinen anderen Namen als den Begriff „Hydrographie” zuließ. Dabei werden Tuschepigmente durch den Trocknungsprozeß gezwungen, Spuren zu hinterlassen, ähnlich wie bei der Erosion einer Landschaft. Die Kräfte des flüssigen Aggregatzustands werden dadurch auf graphische Weise sichtbar gemacht, das Bildergebnis ist eine Hydrographie analog zum Begriff Lithographie. Unter Ausschaltung der Ratio entstehen so Dokumente des Unterbewußtseins, die genau den Prinzipien des Surrealismus entsprechen.
Graphisch gesehen steht die Hydrographie am Schnittpunkt von Zeichnung, Malerei und medialem Bildprozeß. Durch Sedimentation von Tuschepigmenten auf Folie entstehen mikroskopisch kleine Bilder, die in etwa einem fotografischen Negativ entsprechen. Ähnlich wie in der Fotografie bildet die originale Hydrographie den Ausgangspunkt für die Herstellung von Abzügen beliebiger Größe und Auflage. Hydrographien können auch wie Diapositive projiziert werden, oder in digitaler Form per Beamer. Durch das Ausschöpfen des gesamten Hell-Dunkel-Spektrums von absolutem Weiß bis hin zu absolutem Schwarz übertrifft die Leuchtkraft einer Hydrographie die eines Diapositivs bei weitem, wobei durch feinnuancierte Zwischentöne eine geradezu magische Lichtwirkung erzielt wird. Thomas Michel legt Wert darauf zu betonen, daß hydrographische Bilder keine abfotographierten Graphiken und auch keine Computergraphiken sind.
In hydrographischen Bildern entfalten sich ein Mikro- und Makrokosmus zwischen Megalithkultur und Surrealismus.
Die Wurzeln hydrographischer Bilder liegen ebenso in der fernöstlichen Tuschemalerei und Kalligraphie wie im Geist des Surrealismus mit seinen Bildwelten des graphischen Automatismus und der Psychoanalyse. „Kunst als Parallele zur Natur” – dieser berühmte Ausspruch Paul Cézannes findet in der Hydrographie seine direkteste und beeindruckendste Umsetzung. Aus einem Tropfen Tusche entsteht ein ganzes Universum, wobei natürliche Wachstums- und Transformationsprozesse einen nie gesehenen virtuellen Kosmos entstehen lassen, der zugleich seltsam vertraut und fremd wirkt. Mikro- und Makrokosmos verschmelzen zur Projektionsfläche für archetypische Seelenzustände des Betrachters. Die Inspiration durch die Natur steht in der Tradition pantheistischer Weltbilder von der keltischen Megalithkultur bis hin zur Romantik und spiegelt sich auch wieder in der Zusammenschau hydrographischer Bilder in zyklischen Suiten.
Hydrographie steht für den ökonomischen Einsatz der Mittel und eine Abkehr von der in der zeitgenössischen Kunst verbreiteten Ästhetik, inhaltliche Bedeutung nur durch schiere Größe aus Riesenformaten zu schöpfen. Genau wie die Philosophie des Surrealismus kehrt die Hydrographie zu einem ganzheitlichen Ansatz zurück mit dem Ziel, nicht nur die existieriende Wirklichkeit abzubilden oder im Collageprinzip aus Fragmenten neu zusammenzusetzen, sondern eine völlig neue Kunst zu schöpfen, die auch außerhalb des White Cube funktioniert und wahrnehmbar bleibt. Hydrographie steht für eine Ästhetik jenseits aller bekannten Kunstformen und bietet die metaphysische Bühne für die Rückgewinnung einer in der Konsumgesellschaft verlorengegangenen Fähigkeit: Erkenntnis durch Staunen.

Thomas Michel, Hydrographie, Projektion